Psychotherapeutinnen und -therapeuten weniger voreingenommen als vermutet
Psychotherapeutinnen und -therapeuten weniger voreingenommen als vermutet
Wer eine Psychotherapie macht, kann von einem weitgehend unvoreingenommenen Therapeuten oder einer Therapeutin ausgehen – das ist das Ergebnis einer Studie von Prof. Dr. Christoph Flückiger von der Universität Kassel. Das widerspricht tendenziell einer der grundlegenden Schlussfolgerungen des berühmten Rosenhan-Experiments.
In der Studie von Flückiger wurden zwei Experimente durchgeführt, an denen insgesamt 120 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten teilnahmen. Sie schilderten dabei ihre ersten klinischen Eindrücke in zwei aufeinanderfolgenden Patientenfällen unter verschiedenen Aufmerksamkeitsbedingungen. Die Therapeutinnen und Therapeuten mussten entweder einen symptomfokussierten oder einen stärkenfokussierten Aufmerksamkeitsfokus einnehmen, um sich an die Fälle zu erinnern.
In beiden Experimenten schätzen die Therapeutinnen und Therapeuten die Patientinnen und Patienten in den symptomfokussierten Bedingungen als geringfügig stärker belastet, weniger belastbar und weniger psychosozial integriert ein als in den stärkenfokussierten Bedingungen. Obwohl diese Effekte statistisch signifikant waren, blieben sie gering bis klinisch vernachlässigbar. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die ersten klinischen Eindrücke aktueller Psychotherapeutinnen und -therapeuten in beiden Experimenten zwar leicht verzerrt sein können, aber nicht so dramatisch, wie es das Rosenhan-Experiment vermuten ließ.
Vor fünfzig Jahren gehörte das Rosenhan-Experiment zu den einflussreichsten psychologischen Studien. Es kam zu dem Schluss, dass Klinikerinnen und Kliniker bei ihrem ersten diagnostischen Eindruck durch den klinischen Kontext negativ voreingenommen sein könnten, das heißt ihre Patientinnen und Patienten als drastisch kränker einstufen als sie eigentlich sind. Das wirke sich negativ auf weitere Entscheidungen aus. Die aktuelle Studie der Universität Kassel widerlegt jedoch, dass Psychotherapeutinnen und -therapeuten heute Patientinnen und Patienten kränker wahrnehmen, als sie tatsächlich sind. „Dieses in allgemeinen Diskussionen nach wie vor ziemlich oft gehörte Argument, ist so in seiner dramatischen Stärke widerlegt“, betont Flückiger. Dennoch überraschen ihn die Ergebnisse, denn „Therapeutinnen und Therapeuten sind nichtsdestotrotz beeinflussbar in ihrem klinischen Urteil, wenn auch dieser Trend der Beeinflussbarkeit nicht besonders stark war.“
Für die Praxis sind die Ergebnisse besonders relevant, da sie die Beeinflussbarkeit von Diagnosen aufzeigen. „Die Resultate unterstreichen, wie wichtig eine sorgfältige und ausgewogene Diagnostik ist, die sowohl Belastungen als auch die Fähigkeiten der Patientinnen und Patienten berücksichtigt“, so Flückiger. Dies bietet wertvolle Impulse für die Ausbildung und Praxis von Fachpersonen, die mit Patientinnen und Patienten mit psychischen Störungen arbeiten, indem die Wichtigkeit eines ausgewogenen professionellen diagnostischen Fokus hervorgehoben wird.
Weitere Informationen:
Studie: https://psycnet.apa.org/fulltext/2025-48818-001.html
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