Projekt "ReformBIO": Wie in der Versuchsküche gesündere Lebensmittel entstehen
Wie in der Versuchsküche gesündere Lebensmittel entstehen
Das Knuspermüsli zum Frühstück, eine Pizza aus dem Tiefkühler zum Mittagessen und abends ein leckerer Fruchtjoghurt – in vielen Lebensmitteln versteckt sich eine große Menge Zucker. Dies fördert langfristig die Entstehung zahlreicher Krankheiten, wie Adipositas und Diabetes.
Im Projekt „ReformBIO “, gefördert durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Rahmen des Bundesprogramms Ökologischer Landbau (BÖL), beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen an der Hochschule Bremerhaven damit, wie sich der Zuckeranteil in Biolebensmitteln deutlich reduzieren lässt. Dies kann zum Teil eine große Herausforderung sein, denn: Einfach weniger Zucker zu verwenden, ist keine Lösung.
Jede einzelne Zutat in einem Lebensmittel hat eine Auswirkung auf dessen Geschmack und Konsistenz. Es macht einen Unterschied, ob für Backwaren Weizen oder Roggenmehl verwendet wird und ob einem Fruchtjoghurt eine Zubereitung aus Erdbeeren oder Heidelbeeren zugefügt wird. „Jeder Rohstoff hat andere Eigenschaften und reagiert zusätzlich in der Kombination mit den anderen Komponenten in einem Produkt. Es kann also sein, dass wir beispielsweise bei Keksen die Backzeit anpassen oder mehr oder weniger Flüssigkeit hinzugeben müssen, weil wir andere Mehlsorten oder Sirup statt Zucker verwenden“, erklärt Projektmitarbeiterin Lisa Nitze. Zucker sorge außerdem nicht nur für Süße in den Produkten, sondern auch für die richtige Textur. Kekse werden knusprig und braun, Joghurt cremig. Werde er reduziert, müsse die gewünschte Konsistenz anderweitig hergestellt werden. „In der konventionellen Herstellung könnten wir auf Zusatzstoffe zurückgreifen. Das ist in der Bio-Branche nur begrenzt erlaubt. Zusätze, die chemisch oder enzymatisch verändert wurden, dürfen wir beispielsweise nicht verwenden.“
Produktentwicklung ist Wissenschaft
30 Prozent weniger Zucker in Biolebensmitteln bei gleichem Mundgefühl und Geschmack – das ist das Ziel des Projekts. Auch wenn am Ende reale Produkte entstehen sollen, funktioniert die Forschung und Entwicklung nicht ohne Theorie. Daher haben sich die Wissenschaftlerinnen zunächst in den aktuellen Forschungsstand eingelesen und mit der Zusammensetzung von Lebensmitteln auseinandergesetzt, die bereits auf dem Markt erhältlich sind: Wie ist der durchschnittliche Zuckergehalt und welche Zuckersorten wurden verwendet? Welche Auswirkungen haben bestimmte Inhaltsstoffe auf das Produkt?
Für die ersten Versuche wurden die Produkte aus dem Supermarkt im Labor „nachgebaut“. „Wir reduzieren zunächst nur den Zuckergehalt in Fünf-Prozent-Schritten und verändern sonst nichts an der Zusammensetzung. Dann vergleichen wir die Ergebnisse. Dabei ist die Frage, wie und ab wann sich das Produkt sensorisch verändert. Wird es nur weniger süß oder hat es auch eine andere Konsistenz? Je nachdem, was wir bei den Tests feststellen, müssen wir dann die Rohstoffe und die technischen Parameter, wie beispielsweise die Backzeit, anpassen“, so Nitze. Die Suche nach den Gründen für die sensorischen Veränderungen macht Projektleiterin Kirsten Buchecker besonders viel Spaß: „Es ist eine richtige Detektivarbeit. Wir überlegen gemeinsam, woran es liegen könnte, und testen dann, ob wir mit unseren Vermutungen Recht hatten. Manchmal kommen wir sehr leicht auf die Lösung, aber manchmal ist es etwas kniffliger.“ Außerdem kommen ständig neue Erkenntnisse aus anderen Forschungsprojekten hinzu, die auch für „ReformBIO“ wichtig sein können. Dies im Blick zu behalten, sei wichtig für den Erfolg des Projekts.
Die größte Herausforderung bei den Produktentwicklungen war bisher der zuckerreduzierte Fruchtjoghurt. Anders als bei den anderen Produkten wurde hier ausschließlich mit einer Zuckerreduktion gearbeitet, statt auf andere Süßungsmittel zurückzugreifen. Während der Versuche zeigte sich eine Besonderheit: „Eine Zuckerreduktion von bis zu 20 Prozent ist ohne größere Probleme möglich. Wenn wir aber den Zuckergehalt um 25 Prozent senken, wird der Joghurt flüssig“, weiß Lisa Nitze. Der Grund: In Kombination mit Verdickungsmitteln bildet der Zucker Strukturen, die für die gewünschte Konsistenz sorgen. Wird der Zuckergehalt zu gering, funktioniert dies nicht mehr. Im Labor der Hochschule hat das Projektteam daran gearbeitet, dass sich der Joghurt nicht in Trinkjoghurt verwandelt. „Es gibt zwar natürliche Verdickungsmittel, die wir nutzen dürfen. Diese wirken aber nicht nur miteinander, sondern reagieren auch mit dem pH-Wert des Produkts. Da alle Früchte, die wir verwendet haben, ein anderes Süße-Säure-Verhältnis und somit auch einen anderen pH-Wert haben, ist das Mengenverhältnis bei jeder Joghurtsorte anders. Außerdem haben Verdickungsmittel entweder einen Eigengeschmack oder sorgen dafür, dass die Frucht nicht mehr gut zu schmecken ist. Dann müsste man mit Aromen arbeiten, was im Biobereich nicht gewünscht ist“, erklärt Buchecker.
Gewohnheiten von Konsument:innen müssen beachtet werden
Gerade die Aromastoffe, die in konventionellem Joghurt zu finden sind, machen es den Lebensmitteltechnologinnen zusätzlich schwer. Da diese in der Regel nur wenig mit dem natürlichen Fruchtgeschmack zu tun haben, verändern sie die Erwartung der Verbraucher:innen, wie beispielsweise Erdbeerjoghurt schmecken sollte. „Die erlernten Präferenzen der Konsument:innen sind ein großes Thema für uns, wenn wir mit natürlichen Produkten arbeiten. Wir müssen also eine Möglichkeit finden, wie wir den natürlichen Geschmack der Früchte stärker hervorheben“, sagt Buchecker. Für Erdbeerjoghurt konnten die Wissenschaftlerinnen beobachten, dass schon die Zuckerreduktion selbst dem natürlichen Aroma hilft. „Das Problem bei Erdbeerjoghurt ist, dass die Erdbeere normalerweise kaum zu schmecken ist. Das ändert sich ab einer Zuckerreduktion von zehn Prozent. Da kommt die Frucht plötzlich durch“, sagt Lisa Nitze. Dies können die Forscherinnen für ihre Entwicklungen nutzen und nach Komponenten suchen, die dies noch weiter verstärken.
Ein wissenschaftlicher Ansatz, den sie dabei verfolgen, ist das sogenannte Foodpairing. Dabei werden Lebensmittel kombiniert, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen, aber ähnliche aromatische Verbindungen haben. Diese sind in einer Datenbank abgespeichert, auf die die Projektmitarbeiterinnen zugreifen. So finden sie auch Kombinationen, die sie selbst überraschen. „Besonders ungewöhnlich dürfte die Kombination von Mango und Kohlrabi sein. Lässt man die Fruchtmischung einen Tag gut durchziehen, so verschwindet die Kohlnote des Kohlrabis und der Geschmack der Mango wird verstärkt“, erklärt Kirsten Buchecker. Dass Foodpairing besonders in der Bio-Branche großes Potenzial hat, hat kürzlich die Georg-August-Universität Göttingen herausgefunden. Als Projektpartnerin hat sie Verbraucher:innenstudien durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass knapp die Hälfte der Konsument:innen Foodpairing gegenüber aufgeschlossen ist und mit mehr Geschmack in Verbindung bringt. Besonders Bio-Kund:innen seien offen für innovative Geschmackskombinationen.
Nicht immer läuft alles glatt
Wenn die zahlreichen Versuche im Labor am Ende das gewünschte Ergebnis liefern, freuen sich die Wissenschaftlerinnen besonders. Allerdings stoßen sie auch immer wieder auf Probleme, bei denen ihnen weder der Forschungsstand noch die eigenen Untersuchungen helfen. „Bisher haben wir zum Beispiel noch keine Lösung gefunden, mit der wir die feste Konsistenz des Joghurts bei einer Zuckerreduktion ab 25 Prozent erhalten konnten. Wir arbeiten zwar daran, aber möglicherweise ist das Ergebnis am Ende, dass es einfach nicht funktioniert“, so Nitze. Und auch das sei dann eine wichtige Erkenntnis für die Wissenschaft und die Unternehmen, die sich mit der Zuckerreduktion ihrer Produkte beschäftigen. Allgemein bringen häufig die Dinge den größten Erkenntnisgewinn, die nicht sofort das gewünschte Ergebnis liefern. „Wenn immer alles problemlos funktionieren würde, dann würden wir nichts lernen. Wir lernen durch Scheitern. Dann müssen wir aktiv werden und überlegen, was das Problem ist. Deshalb ist auch eine der wichtigsten Eigenschaften in der Forschung die Neugier“, sagt Buchecker.
Manchmal kommen die Wissenschaftlerinnen auch zu Ergebnissen, über die sie sich – trotz aller Erfahrung – wundern. „Bei unserem Knuspermüsli haben wir verschiedene Sirupsorten ausprobiert und den Wassergehalt entsprechend angepasst. Trotzdem haben wir bei manchen Sorten keine Clusterung, also keine Knusperstückchen, erhalten. Das konnten wir uns zunächst nicht erklären“, sagt Lisa Nitze. Sie haben dann die einzelnen Zutaten genauer untersucht und schließlich den entscheidenden Faktor entdeckt: „Zucker besteht immer aus zwei Molekülen: Fructose und Glucose. Wir haben festgestellt, dass Fructose nicht kristallisiert und somit auch keine Cluster bildet. Somit funktioniert beispielsweise Agavendicksaft als alternatives Süßungsmittel nicht. Aber Maltose, die in Reissirup enthalten ist, kristallisiert sehr gut.“ Diese Erkenntnis geben sie gern an Unternehmen, die an zuckerreduzierten Lebensmitteln arbeiten, weiter. Auch der Bundesverband Naturwaren und Naturkost (BNN) trägt die Ergebnisse mit einer Arbeitsgruppe aus Forschenden, Hersteller:innen und Händler:innen die Ergebnisse direkt in die Bio-Branche.
Wenn Kirsten Buchecker und Lisa Nitze mit ihrem Produkt zufrieden sind, startet das sensorische Panel. Dabei werden die Lebensmittel Studierenden des Bachelorstudiengangs Lebenstechnologie/Lebensmittelwirtschaft zur sensorischen Beurteilung vorgelegt. Diese sind speziell geschult und werten in objektiven Kategorien statt in „schmeckt“ oder „schmeckt nicht“. So wird herausgefiltert, ob etwas an der Rezeptur verändert werden muss. Im besten Falle bekommen die Wissenschaftlerinnen so auch Hinweise, was nicht stimmig ist. Es kann mehrere Monate dauern, bis das Panel mit der Sensorik des Produkts zufrieden ist. Erst dann folgen Konsument:innentests. „Es ist wichtig, dass wir sensorisch sehr nah an das Ausgangsprodukt heranreichen. Trotzdem kann es zu gefühlten Einbußen kommen. Da ist es wichtig, sehr offen damit umzugehen und zu erklären, warum es zu Änderungen gekommen ist“, sagt Buchecker. Aktuell arbeiten die Wissenschaftlerinnen an Mürbekeksen und Cookies. Sie haben mehrere Geschmacksrichtungen entwickelt, die sie derzeit verkosten lassen. „Noch kämpfen wir hier mit dem Mundgefühl. Das ist noch nicht so, wie bei den herkömmlichen Keksen“, so Buchecker weiter.
Studierende werden in den Forschungsprozess einbezogen
Auch außerhalb der Panels sind Studierende an dem Projekt beteiligt. Sie unterstützen Kirsten Buchecker und Lisa Nitze durch ihre Forschungsarbeit in verschiedenen Bereichen. „Unsere Studis sind von Tag 1 dabei und arbeiten neben dem Studium in unserem Labor. Dabei lernen sie nicht nur das eigenständige und kreative Arbeiten, sondern auch die Kommunikation mit den Unternehmen. Ihre Forschungsergebnisse fließen in ihre Bachelorarbeiten“, sagt Kirsten Buchecker. Und was passiert im Anschluss an das Studium? „Darüber müssen sie sich keine Sorgen machen. Die Unternehmen haben großes Interesse an den Studierenden – besonders, wenn sie bereits mit ihnen gearbeitet haben. Alle Studis, mit denen wir gearbeitet haben, konnten direkt in den Beruf einsteigen.“
Wenn die Arbeit an den Keksen abgeschlossen ist, haben die Wissenschaftlerinnen noch eine weitere Herausforderung. Als letztes Produkt sollen noch zuckerreduzierte Erfrischungsgetränke entwickelt werden. Bis dahin ist das Projekt noch bei verschiedenen Messen und Kongressen vertreten – und hat dabei immer Kostproben im Gepäck.
Mit Begeisterung studieren, lehren und forschen – dafür steht die Hochschule Bremerhaven. In mehr als 20 praxisnahen und innovativen Studiengängen profitieren die rund 3.000 Studierenden von der engen Zusammenarbeit mit der regionalen Wirtschaft und modernen Lehr- und Lernansätzen. Die zahlreichen Forschungsaktivitäten der „Hochschule am Meer“ wurden bereits vielfach ausgezeichnet und unterstützen nachhaltige Entwicklungen in der Region und darüber hinaus.
Pressekontakt: Hochschule Bremerhaven Nadine Metzler An der Karlstadt 8 27568 Bremerhaven nmetzler@hs-bremerhaven.de presse@hs-bremerhaven.de