Farben der Entropie – Die Materialeigenschaften von Edelstahl voraussagen
Einem internationalen Forscherteam unter Beteiligung der Hochschule München ist es gelungen, die komplexen physikalischen Eigenschaften von Legierungen zu berechnen und ihre Veränderung bei der Bearbeitung mit Laserlicht vorauszusagen. Damit eröffnen sich jetzt neue Möglichkeiten zur Prozesskontrolle.
München, 25. Februar 2025 – Ein Leben ohne Legierungen ist schwer vorstellbar: Löffel, Alufolien, Messer, Autoteile, Handy- und Computerplatinen, Stents und Baustahl bestehen aus chemischen Verbindungen, die mindestens ein Metall enthalten. „Obwohl Legierungen überall zum Einsatz kommen, gibt es bis heute erhebliche Wissenslücken, was ihre physikalischen Eigenschaften betrifft“, sagt Prof. Dr. Heinz P. Huber, Leiter des Laserzentrums an der Hochschule München (HM) und Professor an der Fakultät für angewandte Naturwissenschaften und Mechatronik. Besonders schwer prognostizierbar sind die Materialeigenschaften von „Hochentropie-Legierungen“: Diese Werkstoffe enthalten verschiedene Metalle zu gleichen Anteilen, deren Positionen im Kristallgitter beliebig variieren können. Die maximale Unordnung – also die Entropie – hat zur Folge, dass die elektrischen und magnetischen Eigenschaften dieser Materialien bisher kaum prognostizierbar waren.
Verarbeitung von Legierungen: Materialeigenschaften nicht vorhersehbar
„Dieses Wissensdefizit hat Auswirkungen auf die Praxis“, betont Huber. „Unternehmen, die beispielsweise Legierungen für Implantate oder Handyplatinen mit Ultrakurzpulslasern perforieren, sind bisher bei der Steuerung ihrer Maschinen auf Trial-and-Error angewiesen.“ Um die Fertigung bedarfsgerecht und präzise steuern zu können, müsste man wissen, wie, wann und in welcher Tiefe die Energie des Lasers absorbiert wird. Die Voraussetzung dafür wäre ein Verfahren, das exakt an dem Punkt, den der Laser ansteuert, in Echtzeit die Materialeigenschaften wie Temperatur und Dichte ermittelt. Für ein solches Monitoring fehlte bisher jedoch das fundamentale physikalische Verständnis.
Quantenmechanik macht Unordnung berechenbar
Einem internationalen Forscherteam ist es jetzt gelungen, diese Wissenslücke zu schließen. Die Arbeit, deren Erstautor Dr. David Redka von der Hochschule München ist, wurde unlängst in Nature Communications veröffentlicht. Die Prognosen des Materialverhaltens von Hochentropie-Legierungen basieren auf komplexen, quantenmechanischen Berechnungen. Mit deren Hilfe konnte Redka den Einfluss von maximaler Unordnung und starken elektronischen Wechselwirkungen auf ihre elektrischen beziehungsweise optischen Eigenschaften erklären.
Die theoretischen Voraussagen wurden durch Experimente am Schweizer EPFL sowie am Paul Scherrer Institut (PSI) untermauert: Dort untersuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit hochenergetischer Röntgenstrahlung eine Legierung aus Chrom, Mangan, Eisen, Kobalt und Nickel. Diese Metallmischung wird in der Forschung als Prototyp für Hochentropie-Legierungen eingesetzt. „Dank der Experimente und der theoretischen Berechnungen konnten wir die Einflüsse von chemischer Entropie und starken elektronischen Wechselwirkungen auf die Materialeigenschaften separieren“, erklärt Redka.
Entropie von Edelstahl am Lichtspektrum erkennbar
Starke elektronische Wechselwirkungen wirken sich auf die Absorption von sichtbarem Licht aus, wenn man die Oberfläche beleuchtet. Die Entropie wiederum beeinflusst den elektrischen Widerstand und die Absorption von infrarotem Licht. Licht, das von der Oberfläche reflektiert wird, verrät darüber hinaus, in welchem Zustand sich die Legierung befindet: Je höher die Temperatur und je dichter das aufgeschmolzene Material, desto stärker verändert sich der Brechungsindex und damit auch die Farbe des reflektierten Lichtstrahls.
Die Ergebnisse der Arbeit wollen die Forschenden am Laserzentrum jetzt nutzen, um neue Verfahren zum Prozesskontrolle bei der Materialbearbeitung mit Ultrakurzpuls-Lasern zu entwickeln: „Unser langfristiges Ziel ist es, mit Hilfe eines Lichtstrahls, der auf die Oberfläche einer Legierung geleitet und dort reflektiert wird, in Echtzeit die Temperatur und Dichte zu bestimmen“, resümiert Huber: „Damit wäre es erstmals möglich, Sensoren zu entwickeln, die ein Monitoring bei der Bearbeitung mit hochenergetischer Laserstrahlung erlauben.“
Gerne vermitteln wir einen Interviewtermin mit Prof. Dr. Heinz Huber und Dr. David Redka.
Kontakt: Christiane Taddigs-Hirsch unter 089 1265-1911 oder per Mail.
Publikation
David Redka, Saleem Ayaz Khan, Edoardo Martino,Xavier Mettan,Luka Ciric,Davor Tolj,Trpimir Ivšić, Andreas Held, Marco Caputo, Eduardo Bonini Guedes, Vladimir N. Strocov, Igor Di Marco,Hubert Ebert, Heinz P. Huber, J. Hugo Dil, László Forró, Ján Minár: Interplay between disorder and electronic correlations in compositionally complex alloys Nature Communications | (2024)15:7983
doi.org/10.1038/s41467-024-52349-8
Kooperationspartner
New Technologies Research Center, Westböhmische Universität in Pilsen, Pilsen, Tschechien, Institut für Physik, École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL), Lausanne, Schweiz, Fakultät für Chemie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Center for Photon Science, Paul Scherrer Institut, Villigen, Schweiz, Institut für Physik, Nikolaus-Kopernikus-Universität, Toruń, Polen, Institut für Physik und Astronomie, Universität Uppsala, Uppsala, Schweden, Stavropoulos Center for Complex Quantum Matter, Institut für Physik und Astronomie, Universität Notre Dame, Notre Dame, Indiana, USA sowie die Abteilung für Physikalische Chemie, Institut Ruđer Bošković, Zagreb, Kroatien.
Weitere Information: Die Publikation entstand in enger Zusammenarbeit mit Prof. Ján Minár von der Universität Pilsen. Dieser ist derzeit als Mercator Fellow am Laserzentrum tätig und wird im Sommersemester 2025 eine Vorlesung zur Dichtefunktionaltheorie als Wahlpflichtfach unter dem Titel „DFT zur Vorhersage von Materialeigenschaften“ anbieten.
Hochschule München Die Hochschule München ist mit über 500 Professorinnen und Professoren, 780 Lehrbeauftragten und über 18.300 Studierenden eine der größten Hochschulen für angewandte Wissenschaften Deutschlands. In den Bereichen Technik, Wirtschaft, Soziales und Design bietet sie rund 100 Bachelor- und Masterstudiengänge an. Exzellent vernetzt am Wirtschaftsstandort München, arbeitet sie eng mit Unternehmen und Institutionen zusammen und engagiert sich in praxisnaher Lehre und anwendungsorientierter Forschung. Die HM belegt im Gründungsradar des Stifterverbands deutschlandweit erneut den ersten Platz unter den großen Hochschulen und Universitäten. Neben Fachkompetenzen vermittelt sie ihren Studierenden unternehmerisches und nachhaltiges Denken und Handeln. Ausgebildet im interdisziplinären Arbeiten und interkulturellen Denken gestalten ihre Absolventinnen und Absolventen eine digital und international vernetzte Arbeitswelt mit. In Rankings zählen sie bei Arbeitgebern zu den Gefragtesten in ganz Deutschland. hm.edu