Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw)
Neue Konjunkturprognose: Osteuropa wächst 2022 noch um 3,2% - ANHANG
Wien (ots)
2,5 Prozentpunkte weniger Wachstum als 2021, Russland und Türkei schwach; Risiken Inflation, Ukraine-Krise, Covid; Moskau auf Sanktionen vorbereitet, EU verwundbar
Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) erwartet für 2022 für die 23 Länder Zentral-, Ost- und Südosteuropas (CESEE) ein Wachstum von 3,2%. Gegenüber den für das vergangene Jahr prognostizierten 5,7% ist das eine markante Abschwächung um 2,5 Prozentpunkte. Hauptgrund sind die schlechteren Wachstumsaussichten für Russland (2%) und die Türkei (3,5%), den beiden größten Volkswirtschaften der Region.
Die Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn dürften mit im Schnitt 4,6% (2022) und 4,4% (2023) weiterhin stark wachsen. Die ökonomischen Auswirkungen der Covid-Pandemie sollten überschaubar bleiben, auch wenn die Anzahl der Covid-Infektionen in vielen Ländern Osteuropas dramatisch bleibt. Niedrige Durchimpfungsraten und eine vergleichsweise alte Bevölkerung bergen trotz der milderen Omikron-Variante ein Risiko für die Konjunkturentwicklung.
„Bei Russland trüben die absehbaren neuen Wirtschaftssanktionen der EU und der USA im Falle eines bewaffneten Konflikts in der Ukraine sowie altbekannte strukturelle Schwächen die Perspektiven“, sagt Richard Grieveson, stellvertretender Direktor des wiiw und Hauptautor der Winterprognose. Im Falle der Türkei kollabierte mit der Währung auch der ökonomische Boom der vergangenen Jahre. Die massiv gestiegene Inflation limitiert die Wachstumsaussichten für das Land am Bosporus.
Im Vergleich zum Herbst hat das wiiw seine Prognose für die Region CESEE sowohl für 2022 als auch für 2023 nur geringfügig revidiert. Für 2022 sehen wir die Wachstumsaussichten in Bulgarien (3,8%), Tschechien (4,0%), Serbien (4,9%) und Nordmazedonien (3,5%) nun etwas positiver. Eine Revision nach unten erfuhren Russland (2%), Belarus (1,0%), Bosnien-Herzegowina (2,5%) und die Slowakei (3,9%).
Russland teilweise immun gegen neue Wirtschaftssanktionen
Insbesondere in Russland dürfte das Wachstum 2023 mit noch 1,5% fast zum Erliegen kommen. Eingepreist sind hier bereits die Folgen eines möglichen Konflikts um die Ukraine, nicht allerdings jene einer großen Invasion. „Wir gehen in unserer Prognose von einer Eskalation zwischen Russland und dem Westen mit der Verhängung weiterer gegenseitiger Wirtschaftssanktionen aus. Diese werden beide Seiten treffen, sollten die wirtschaftliche Erholung in Osteuropa insgesamt allerdings nicht zum Erliegen bringen“, so Grieveson.
Russland hat seine Wirtschaft seit 2014 gegen neue Sanktionen teilweise immunisiert und dürfte die meisten von ihnen verkraften. „Die Möglichkeiten, Russland mit Wirtschaftssanktionen zum Einlenken zu zwingen, sind enden wollend“, konstatiert Grieveson. Eine konservative Geld- und Fiskalpolitik hat den Aufbau beträchtlicher Währungsreserven ermöglicht, die sich auf insgesamt 630 Milliarden US-Dollar belaufen. Die Bruttowährungsreserven einschließlich Gold machten im November 2021 rund 40% des russischen BIP aus. Die Auslandsverschuldung ist niedrig, zudem fand eine Verringerung der Exposition gegenüber dem US-Dollar bei den Staatsanleihen statt.
Hauptrisiko Inflation
Härter könnte ein Showdown mit Russland die EU treffen, meint Grieveson: „Sollte es tatsächlich zu einem bewaffneten Konflikt kommen, werden die ohnehin schon hohen Preise für Erdgas und Erdöl nach oben schnellen und die Inflation weiter anheizen.“
Die hohe Inflation stellt noch vor dem Konflikt mit Russland und der Corona-Pandemie das größte Risiko für die Konjunkturerholung in der CESEE-Region dar. Auch wenn die Teuerung im Vergleich zu Westeuropa vielerorts noch von langjährigen Höchstständen entfernt ist, verfestigt sie sich auch in Osteuropa, wo die Ausgaben für Energie und Nahrungsmittel einen viel höheren Anteil an den Gesamtausgaben ausmachen als in Westeuropa. Infolgedessen setzen manche Regierungen bei Lebensmitteln bereits auf Preiskontrollen, nicht zuletzt aus Gründen der innenpolitischen Stabilität, so in Ungarn, Serbien und Nordmazedonien. Polen und Rumänien diskutieren darüber.
Im gewichteten Durchschnitt rechnen wir in CESEE heuer mit einer Inflationsrate von 10,3% nach 8,7% im vergangenen Jahr, in der Türkei sogar mit 26,2%. Die Inflationsrate der Visgrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn sollte im Schnitt hingegen bei 5,2% liegen. Die Inflation wird noch mindestens einige Monate lang hoch bleiben. Die wichtigste Frage ist, ob sie zu einem anhaltenden Anstieg der Löhne führen wird. „Sollte dies der Fall sein, steht uns eine längere Phase der Inflation bevor, die deutlich höher ausfallen wird als die, die die meisten Staaten in Osteuropa seit 2008 erlebt haben“, sagt Grieveson.
Das wahrscheinlichste Szenario ist jedoch, dass sich die Preisanstiege bis Mitte des Jahres abflachen. Einerseits, weil sich die schlimmsten Verwerfungen auf der Angebotsseite – Stichwort Lieferketten-Probleme – entspannen sollten, und andererseits auch die hohen Energiepreise nicht von Dauer sein dürften. Diese Prognosen sind jedoch mit einem ungewöhnlich hohen Maß an Unsicherheit behaftet.
Österreich profitiert, Sorgenkind Russland
Als einer der größten Investoren in vielen Ländern der Region profitiert Österreich wie Deutschland von der fortgesetzten Erholung in Osteuropa. So stiegen die Exporte in die östlichen EU-Mitgliedstaaten zwischen Jänner und Oktober 2021 um 18,3% und jene in die Länder des Westbalkans um 17,2%, während sie in die Länder des Euro-Raums um „nur“ 15% expandierten. Allerdings: In die Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) exportierte Österreich im gleichen Zeitraum um 5,5% weniger. Darin spiegelt sich vor allem die schwache Nachfrage aus Russland, wohin Österreichs Importe von Jänner bis Oktober 2021 um 9,1% schrumpften.
Im Falle neuer gegenseitiger Wirtschafssanktionen zwischen Russland und der EU dürften die österreichischen Exporte nach Russland weiter sinken. Österreich ist in Russland der elftgrößte ausländische Investor. Unter neuen Sanktionen würden daher auch österreichische Firmen leiden. Österreichs Abhängigkeit von russischen Energielieferungen, vor allem bei Erdgas, manifestierte sich 2021 in einem Handelsbilanzdefizit von 1,8 Milliarden Euro für die ersten zehn Monate. Versorgungsunterbrechungen oder massive Preissteigerungen bei Erdgas könnten die österreichische Wirtschaft im Krisenfall treffen.
Pressekontakt:
Andreas Knapp
Communications Manager
Tel. +43 680 13 42 785
knapp@wiiw.ac.at
Original-Content von: Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), übermittelt durch news aktuell