Kieferorthopädische Versorgung in Deutschland muss neu gedacht werden
Intransparente Datenlage und fehlerhafte Strukturen
Köln (ots)
Im Rahmen des 15. JuraHealth Congress am 19. Mai 2022 in Köln wurde auch die Datenlage zur kieferorthopädischen Versorgung in Deutschland kritisch diskutiert. Kongresspräsident Prof. Dr. Volker Großkopf und Dr. Alexander Spassov, Kieferorthopäde aus Greifswald, nahmen insbesondere die Intransparenz der Daten zu Wirksamkeit und Nutzen kieferorthopädischer Versorgung in den Blick und sprachen über die Bedeutung der zunehmend verbreiteten Aligner-Therapie, also die Zahnbegradigung mit angepassten, herausnehmbaren Schienen.
Die Intransparenz der Datenlage zu kieferorthopädischen Behandlungen ist bereits seit Jahren bekannt und wurde schon 2018 vom Bundesrechnungshof gegenüber dem Bundesministerium für Gesundheit und dem GKV-Spitzenverband thematisiert. Die teilweise unkonkreten Definitionen der Standardversorgung eröffnen Patienten und Ärzten zwar Möglichkeiten zu Entscheidungs- und Therapiefreiheit, erschweren aber auch die Schaffung einer zuverlässigen und neutralen Informationsgrundlage, auf deren Basis Betroffene sich sachkundig für oder gegen zusätzliche Leistungen entscheiden können, für deren Kosten sie selbst aufkommen. Eine entsprechende ärztliche Beratungungs- und Aufklärungspflicht besteht auch für Kieferorthopäden. "Der Patient muss über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten und deren Pros, Cons und deren Kosten aufgeklärt werden", kommentierte Jurist Großkopf.
Verkrustete Strukturen, veraltete Methoden und falsche Anreize
Die Formalisierung und rechtliche Absicherung dieser privaten Zuzahlungen durch das 2019 in Kraft getretene Terminservice- und Versorgungsgesetz, bzw. die Umsetzung des §29 SGB V, Abs. 6 sehen Großkopf und Spassov kritisch. Ihrer Ansicht nach handelt es sich um eine "maskierte Kürzung des Leistungskatalogs". Davon profitieren zum einen die Behandler, die ihren Gewinn maximieren können und zum anderen die Krankenkassen, indem sie den Versicherten entsprechende Zusatzversicherungen anbieten. So werden Fehlanreize im Vergütungssystem bei der kieferorthopädischen Versorgung strukturell regelrecht gefördert.
Obwohl also ein offensichtlicher, seit Jahren bekannter und bereits oft an höchsten Stellen thematisierter Reformbedarf besteht, fehlt es bis heute an durchschlagenden Bemühungen, die kieferorthopädische Versorgung transparenter zu gestalten und Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung zu ergreifen. Dadurch könnte auch das Themenfeld der Röntgendiagnostik in der Kieferorthopädie in den Blick genommen werden, das Kennzeichen einer Überversorgung aufweist. Zudem wird seit Jahren kritisiert, dass es hier an einer Umstellung auf zeitgemäße Methoden mangelt. Da sich moderne Geräte zur deutlich risikoloseren und besser zuordbaren elektronischen Bilderfassung allerdings langsamer amortisieren, scheuen die Praxisbetreiber entsprechende Anschaffungen.
Chance zur "Demokratisierung"
Seit über 20 Jahren werden diese und weitere strukturelle Mängel der Kieferorthopädie in Deutschland kritisch diskutiert. In den letzten Jahren nimmt die Kritik an Intransparenz, Fehlanreizen, einer funktional fragwürdigen Selbstkontrolle und fehlender Qualitätskontrolle zu. In diesem Kontext lohnt ein Blick auf die Start-up-Unternehmen der Aligner-Branche, die vielleicht geeignet sind, die Strukturen zu demokratisieren und die Kieferorthopädie in Deutschland zum Nachdenken über Prozessoptimierung und Kostensenkung anzuregen. Unter dem Eindruck eines über die Jahre angewachsenen Reformbedarfs und angesichts solcher neuer Perspektiven sollte die Politik die Gelegenheit nutzen, die Rahmenbedingungen der kieferorthopädischen Versorgung in Deutschland neu in den Blick zu nehmen und auf den bestehenden gut dokumentierten Verbesserungsbedarf reagieren.
"Kieferorthopädie - ein Selbstbedienungsladen", ein ausführlicher Artikel und Literatur zum Thema:
www.thrombose-initiative.de/2022/05/20/kieferorthopaedie-ein-selbstbedienungsladen/
"Bundesrechnungshof zur kieferorthopädischen Versorgung: intransparente Datenlage", ein Interview mit Prof. Großkopf und Dr. Spassov:
https://www.rechtsdepesche.de/bundesrechnungshof-kritik-kieferorthopaedie/
Pressekontakt:
Prof. Dr. Knut Kröger
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