Meine Begegnung mit dem Nichts!
Nachdem ich das Schlossportal, das sich inzwischen wieder harmonisch in den wilhelminischen Entwurf der Linden einfügt, durchschritten habe, lande ich in gewaltigen hohen Innenhöfen, durch die der Wind den allgegenwärtigen Berliner Baustaub wirbelt und bin froh eine der gerade aus der Mode gekommene Feinstaubmaske dabei zu haben. Schnell wechselt die Architektur vom Wilhelminischen in den Größenwahn einer anderen Periode deutscher Geschichte. An großen vierkantigen Pfeilern vorbei hebt mich die Rolltreppe durch klinisch reines Weiß in den zweiten Stock zum Ethnologischen Museum. Was war das doch für eine wunderbare Ausstellung im Völkerkundemuseum in Dahlem!, erinnere ich.
Neugierig und voller Erwartung schreite ich durch die immer noch zu hohe Glas-Flügeltür und lande an einer uneingängigen Installation übergroßer informationsloser Tafeln, die offenbar den Sinn haben mich geschwind ins nächste Kompartiment zu drängen. Hier erwartet mich der Gegenentwurf: Eine in die Luft gezauberte Schnipselsammlung kombiniert mit Miniaturfotos. Da ich keine Lupe dabeihabe und nach dem Versuch zwei der Schnipsel in Bückhaltung zu entziffern, bin ich geneigt sofort meinen Orthopäden anzurufen. Ich lese irgendetwas von Provenienzforschung, die neuerdings ausschließlich betrieben zu werden scheint, um die koloniale Geschichte des Deutschen Reiches gutmenschgerecht zurechtzuplappern. Der dritte Raum enthält eine Aneinanderreihung von Schaukästen, die hochherrschaftlichen Privatgemächern entsprungen zu sein scheinen und stellen in historischer Abfolge mehr oder weniger private Sammlungen vor. Allein der charmante Hausherr fehlt, der die Objekte beleuchtet hätte. Ohne jegliche Erklärung und wieder unter Einsatz der nichtvorhandenen Sherlock Holms Lupe hätte ich allenfalls die dekorativ angebrachte Inventarnummer der einzelnen Objekte entziffern können. Objekterklärungen, kulturelle Zusammenhänge fehlen gänzlich. Ich streife weiter durch die afrikanische Sammlung, die der/die/das Kurator*In mit einem Laster in den Raum abgekippt zu haben scheint. Immer noch freue ich mich auf Ozeanien, da kenne ich mich schließlich aus, und kann dem Ausstellungsentwurf möglichweise auch ohne sachdienlichen Hinweisen folgen. Immerhin gibt es Karten von Ozeanien, von Papua-Neuguinea, vom Bismarck-Archipel und vom Sepik, so dass der geneigte Besucher erfährt, wo auf dem Erdenrund ihn die Ausstellung hingetragen hat. Leider lerne ich weder etwas von der Kolonialzeit noch von den Gebräuchen und Lebensweisen, geschweige denn vom Vielvölkergemisch in dieser Region. Über einen Großmonitor tuckert ein Einbaum an den Pfahlbauten der Krokodilmenschen vorbei. Von der Sagoproduktion am Fluss - NICHTS, vom Gebrauch der Betelnuss - NICHTS, von der Initiation zum Krokodilmenschen in den Haus-Tambarans – NICHTS, von Insektenmenschen, Schlammmenschen, dem Gebrauch der Penishülsen NICHTS, vom Fischfang (und dass sich der Fischbestand durch das Einführen von Amazonasfischarten in den Sepik in den 1960er Jahren dramatisch verändert und heimische Arten ausgemerzt hat [invasive Neobiota]) – NICHTS, dass die Gier der kapitalistischen Gesellschaft (die auch der Kulturstaatsministerin, die diese Ausstellung eröffnete, das fünfte Smartphone in Folge in die Hand drückt) am oberen Sepik mit Gold- und Kupferminen das Wasser des Flusses verseucht und das Leben der verschiedenen Kulturen am Sepik krank macht – NICHTS, dass die deutschen Kolonisten Infrastruktur, Krankenstationen und das deutsche Hausschwein einführten – NICHTS. Das Schwein wird heute in Haus-Tambarans göttlich verehrt, da es die Proteinbilanz in einem Land aufbesserte, in dem nur kleine Beuteltiere gejagt werden konnten (große Säugetiere hat die Evolution auf Papua-Neuguinea nie geschaffen). Wahrscheinlich war das der Kuratorin entgangen, da ihr der Zugang zu den Männerhäusern verwehrt geblieben war. Weiter: von der postnatalen Geburtenkontrolle – NICHTS. Von Kostümen und Tänzen, die die Verbindung zu den Ahnen halten – NICHTS. Die Pracht des Lebens vor Ort, der so verschiedene Lebensentwurf zur Coca-Cola-Kultur des Westens – von all dem NICHTS. Vom Konservieren und Klimatisieren der Holzobjekte durch die Sammler und Museen – NICHTS. Der Dschungel, aus dem die meisten Ausstellungsobjekte errettet wurden, hätte sie schon vor 100 Jahren verdaut. Masken von Würmern durchbohrt, mit Milben, Algen und Spinnenweben überzogen können keine 10 Jahre im Regenwald überdauern – auch davon NICHTS.
Zum beginnenden bundesdeutschen Versöhnungswahn am Waterberg 2004 im Beisein der damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Wieczorek-Zeul wurde von einem Herero plötzlich die Reichskriegsflagge gehisst. Betroffen und verwirrt verebbte der Ministerin ihre Sprache und endete in einem Hingehauchten „Ähhh...“ Ein namibisches Regierungsmitglied, ein kräftiger Ovambo, trat helfend auf die Ministerin zu und beschwichtigte in breitestem Sächsisch: „Nu bassn se mal uff Frau Widschoregg-Tsoil, die doidsche Geschichde is och Deil unsra Geschichde!“ Entwicklungshilfe hatte es schließlich schon vor der Wende gegeben, auch von der DDR. Im Afrikateil der Ausstellung – auch davon NICHTS. Ist denn niemandem aufgefallen, dass die Deutsche Kolonialgeschichte im holprigen 20. Jahrhundert lange weggeräumt und vom Kolonialismus der Neuen Chinesischen Seidenstraße überrollt wurde? – auch davon NICHTS.
Das große NICHTS einer bundesrepublikanischen Provinzialität tauscht den Wissensdrang des 20. Jahrhunderts gegen eine naive Twitterblase des 21. Jahrhunderts, die keine Gegenargumentation zulässt. Mit einer arroganten, die eigene Geschichte negierenden Art klatscht die ausstellende Versöhnungsgemeinde dem Besucher ihr borniertes Dummdummgefasel wie „Über die gesammelten Objekte wurde ein fiktives Bild von „Afrika“ konstruiert – als rückständig, isoliert, unveränderlich und homogen.“, an den Kopf und lässt sie durch gleichgeschaltete Kultur- und Medienpartner verbreiten. Wo ist der Forscherdrang der Kolonisten geblieben? Eigentlich können sie jetzt die Ausstellung auch abfackeln, der faschistoid anmutende Innenbau des Gebäudes lädt ja geradezu dazu ein und könnte dann das gemütliche Gefühl von Tradition und Alles-richtig-gemacht dem Gutmenschenherz herauskitzeln.
Wenn Sie aber zu Völkerverständigung und gegenseitigen Achtung beitragen, Interesse an einem anderen Lebensentwurf mit Riten, Gebräuchen und Naturreligionen, mit 1000 verschiedenen gesprochenen Sprachen auf Papua-Neuguinea haben und über Ihren ostwestfälisch-katholischen Tellerrand hinausblicken wollen, mache ich Ihnen diese Ausstellung gerne neu, selbst unter Beachtung von Provenienz und vor allem im Dialog mit den Nachgeborenen der entsprechenden traditionellen Gemeinschaften. Denn ein Museum sollte nach wie vor Wissensvermittlung (als vordergründigster Aufgabe) und Forschung dienen und nicht einer gutmeinenden, naiv-skandalösen Politik.
Beste Grüße
Marcus Schütz, promovierter Verhaltensbiologe mit humanethologischem Hintergrund und Autor.
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