Technische Universität München
Mit Eyetracking und KI Mathe lernen
TECHNISCHE UNIVERSITÄT MÜNCHEN
PRESSEMITTEILUNG
Eine erste Schule in Nordrhein-Westfalen setzt es bereits ein
Matheschwächen: Kinder mit KI-System individuell fördern
Forschende der Technischen Universität München (TUM) und der Universität zu Köln haben ein KI-basiertes Lernsystem entwickelt, das allein durch die Nachverfolgung der Blickbewegungen mithilfe einer Webcam Stärken und Schwächen in Mathematik erkennt und automatisiert Lernvorschläge macht. Das ermöglicht Lehrerinnen und Lehrern, deutlich mehr Kinder individuell zu fördern als vorher.
Ein aktueller PC, eine gute Grafikkarte und eine handelsübliche Webcam: Das ist laut der Forschung von Prof. Achim Lilienthal alles, was man braucht, um Schwierigkeiten und Stärken von Schülerinnen und Schülern in Mathematik zu erkennen. Das Prinzip: Eine Webcam registriert die Blickbewegungen der Kinder. Je nach Aufgabe ergeben sich bestimmte Muster, die digital auf einer Karte dargestellt werden können. Wo die Kinder häufig hinschauen, färbt sich die Karte rot, wo sie nur kurz drüberhuschen, grün. Diese Heatmap hilft den Forschenden bei der Analyse. „Die künstliche Intelligenz klassifiziert die Muster“, sagt der Robotikprofessor der TUM. Auf Basis dieser Muster wählt die Software dann etwa spezifische Lernvideos und Übungsaufgaben für das jeweilige Kind aus.
Über Heatmaps Lernstrategien identifizieren
„In einem einzigen System die Blickbewegungen mittels Webcam zu verfolgen, über die Muster Lernstrategien zu erkennen und eine individuelle Förderung anzubieten und zuletzt auch noch Förderberichte für Lehrkräfte automatisiert zu erstellen, ist völlig neu“, sagt Maike Schindler. Die Professorin für Mathematik in inklusiven und sonderpädagogischen Kontexten von der Universität zu Köln arbeitet bereits seit zehn Jahren mit TUM-Professor Lilienthal zusammen. Zudem leitet sie das gerade abgeschlossene Forschungsprojekt KI-ALF, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und in dem das Webcam-basierte Eyetracking-System entwickelt wurde. Im Fokus ihrer Forschungen stehen Schülerinnen und Schüler, „die große Schwierigkeiten im Mathematiklernen“ haben, wie Schindler sagt. Perspektivisch ist nach Einschätzung von Lilienthal auf dieser Basis auch ein „individuell angepasster Unterricht“ für besonders leistungsstarke Kinder möglich.
Hunderte Aufgaben hat die studierte Lehrerin Schindler mit ihrem Team definiert, in denen Kinder Zahlen erkennen und darstellen, addieren, subtrahieren, teilen und multiplizieren. „Aufgaben an visuell dargestellten digitalen Lernmaterialien eignen sich hierfür besonders“, so Schindler. So sollen die Kinder etwa herausfinden, wie viele Punkte in einer Tabelle mit zehn Reihen dargestellt sind. Nur in der letzten Reihe fehlen ein paar Punkte.
Wer pfiffig in Mathe ist, springt ziemlich schnell auf die letzte Reihe und zählt hier nur rückwärts. Wer nicht nur Reihen, sondern auch alle Punkte einzeln zählt, gehört zu jenen, die Förderbedarf haben. Das digitale System bildet in einer Heatmap ab, wo die Kinder hinschauen, und die KI übersetzt die Muster in individuelle Lernprogramme.
Vereinfachtes Eyetracking mit hoher Präzision
Für die Entwicklung des vereinfachten Eyetracking-Systems, das nun die Blickbewegungen registriert, kommt dem TUM-Professor Lilienthal zugute, dass er auch in der Robotikforschung mit entsprechenden Systemen arbeitet. Bei der Arbeit mit dem kleinen humanoiden Roboter Nao kommen aktuell Eyetracker zum Einsatz. Damit kann er besser mit Menschen kommunizieren. Diese sehr präzisen Systeme kosten allerdings viele Tausend Euro.
Um eine kostengünstigere Lösung für Schulen zu finden, tricksten die Forschenden, indem sie technisches Know-how und Wissen aus der Mathedidaktik zusammenbrachten. Während hochentwickelte Systeme mit einer maximalen Abweichung von einem Grad arbeiten, liegen Webcams bei einer ungünstigeren Genauigkeit von drei bis vier Grad. Die Lösung: „Bei den KI-ALF-Matheaufgaben wissen wir ja, dass die Schülerinnen und Schüler letztlich die Darstellung der Aufgaben anschauen“, sagt Lilienthal. „Das nutzen wir aus, um das Eyetracking mit der Webcam automatisch nachzujustieren.“ Nach und nach hat das System gelernt, mit der Ungenauigkeit umzugehen. „Es macht für unsere Anwendung heute keinen Unterschied mehr, ob wir mit unseren Webcams oder High-End-Eyetrackern arbeiten“, sagt der Professor. Hierdurch wird das zusammen mit Prof. Maike Schindler entwickelte KI-System erschwinglich und gewinnt daher an Bedeutung für den Einsatz in Schulen.
Gesamtschule Wulfen: Erste Schule in Deutschland setzt das System ein.
Nicht zuletzt deshalb setzt eine erste Schule das KI-basierte Lernsystem ein: die Gesamtschule Wulfen in Dorsten, Nordrhein-Westfalen. Hier ergab ein standardisierter Mathematikleistungstest, dass von 180 Kindern zu Beginn der 5. Klasse ein Drittel „Rechenschwierigkeiten“ hat. „Wir freuen uns“, sagt Schulleiter Hermann Twittenhoff, „dass wir mithilfe des KI-basierten Lernsystems jetzt deutlich mehr Kinder als vorher in ihren mathematischen Basiskompetenzen fördern können. Dadurch können wir mehr Lernenden bei der Verbesserung der Mathematikleistungen helfen, als wir es mangels Lehrkräften bisher konnten.“
In der Gesamtschule können dabei im individuellen Förderunterricht aktuell fünf Schülerinnen und Schüler gleichzeitig mit dem KI-ALF-System arbeiten und werden dabei von einer Lehrerin oder einem Lehrer für Mathe unterstützt und begleitet – während normalerweise in der gleichen Zeit nur ein Kind von der Lehrkraft individuell gefördert würde. „Gerade in Zeiten von Ressourcenknappheit und Lehrkräftemangel ist unser System zur Förderung mathematischer Basiskompetenzen einfach eine tolle Unterstützung für die Schulen“, so Schindler.
Zusatzinformationen für Redaktionen:
Video auf Youtube: https://youtu.be/7fzWbT1O4Zs
Fotos zum Download: https://mediatum.ub.tum.de/1773230
Publikation:
Introduction to eye tracking in mathematics education: interpretation, potential, and challenges; Maike Schindler, Anna Shvarts & Achim J. Lilienthal; Educational Studies in Mathematics (ESM); 3-2025; https://link.springer.com/article/10.1007/s10649-025-10393-1
Structure Sense in Students’ Quantity Comparison and Repeating Pattern Extension Tasks: An Eye-Tracking Study with First Graders; Demetra Pitta-Pantazi, Eleni Demosthenous, Maike Schindler, Achim J. Lilienthal, and Constantinos Christou; Educational Studies in Mathematics (ESM), 2024, pp. 1 – 19; https://link.springer.com/article/10.1007/s10649-023-10290-5
Weitere Informationen:
Webseite des Forschungsprojektes: www.ki-alf.de
Wissenschaftlicher Kontakt:
Prof. Achim Lilienthal
Technische Universität München
Lehrstuhl Perzeption für intelligente Systemen
Kontakt im TUM Corporate Communications Center:
Andreas Schmitz
Presse Robotik und KI
0162-27 46 193
Die Technische Universität München (TUM) ist mit rund 700 Professuren, 53.000 Studierenden und 12.000 Mitarbeitenden eine der weltweit stärksten Universitäten in Forschung, Lehre und Innovation. Ihr Fächerspektrum umfasst Informatik, Ingenieur-, Natur- und Lebenswissenschaften, Medizin, Mathematik sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Sie handelt als unternehmerische Universität und sieht sich als Tauschplatz des Wissens, offen für die Gesellschaft. An der TUM werden jährlich mehr als 70 Start-ups gegründet, im Hightech-Ökosystem München ist sie eine zentrale Akteurin. Weltweit ist sie mit dem Campus TUM Asia in Singapur sowie Büros in Brüssel, Mumbai, Peking, San Francisco und São Paulo vertreten. An der TUM haben Nobelpreisträger und Erfinderinnen und Erfinder wie Rudolf Diesel, Carl von Linde und Rudolf Mößbauer geforscht. 2006, 2012 und 2019 wurde sie als Exzellenzuniversität ausgezeichnet. In internationalen Rankings wird sie regelmäßig als beste Universität in der Europäischen Union genannt.