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Der Tagesspiegel

Der Tagesspiegel: Blüm: "Schwarz-gelbe Geisterfahrer" bei Gesundheit und Pflege

Berlin (ots)

Der langjährige Arbeits- und Sozialminister Norbert
Blüm (CDU) hat die von der Koalition angekündigten Reformen bei 
Gesundheit und Pflege scharf kritisiert. "Die Sozialpartnerschaft 
wird langsam, aber stetig platt gemacht", schreibt Blüm in einem 
Gastbeitrag für den Berliner "Tagesspiegel" (Montagsausgabe). Nach 
der Riester-Rente werde "der schleichende Ausstieg aus der 
gemeinsamen Verantwortung der Sozialpartner für den Sozialstaat" nun 
auch bei der Pflegeversicherung fortgesetzt", schreibt Blüm. "Auf der
Strecke bleibt die subsidiäre Solidarität, wie sie in einer auf 
Gegenseitigkeit angelegten und mit sozialem Ausgleich ausgestatteten 
Sozialversicherung grundgelegt ist". Auch die für 2011 geplante 
Gesundheitsreform kritisierte Blüm scharf. "Die Kopfpauschale ist ein
Schlag gegen die Gerechtigkeit. Der soziale Ausgleich, der bisher mit
Hilfe des einkommenproportionalen Beitrags krankenversicherungsintern
zustande kam, soll jetzt durch das Finanzamt organisiert werden", 
schreibt Blüm weiter. Eine Reform des Sozialstaats müsse aber "auf 
mehr staatsfreie, selbstverwaltete Solidarität zielen. Das Gegenteil 
ist der Fall. Die Geisterfahrer haben Vorfahrt".
Im folgenden dokumentieren wir den Originaltext:
Schwarz-gelbe Geisterfahrer
Kopfpauschale und Pflege-Riester sind ein Angriff auf den Sozialstaat
/ Von Norbert Blüm
Man kann aus Schaden klug werden. Man muss es aber nicht. Mit der 
Kopfpauschale ging die CDU in der Bundestagswahl 2005 baden. 2009, 
nach der Bundestagswahl, versucht sie es wieder mit dem 
einkommensunabhängigen Beitrag zur Krankenversicherung, der für alle 
gleich hoch sein soll. Wenn der Chef den gleichen Beitrag zur 
Krankenversicherung zahlt wie sein Chauffeur und der Meister den 
gleichen wie der Hausmeister, musst Du nicht Plato, Aristoteles oder 
Kant gelesen haben, um das für ungerecht zu halten. Es genügt der 
gesunde Menschenverstand. Der hat für solche Fälle seit alters her 
die Faustformel: "Gleiches gleich und ungleiches ungleich zu 
behandeln".
Die Kopfpauschale behandelt Ungleiches gleich. Mit der Kopfpauschale 
soll die gleiche Geldsumme aufgebracht werden, die bisher mit dem 
einkommensproportionalen Beiträgen für die Krankenversicherung 
beschafft wurde. Die Kopfpauschale wirkt wie eine Durchschnittsregel,
Der Durchschnitt entsteht, indem die einen mehr, die anderen weniger 
zahlen. Mehr zahlen die, welche weniger verdienen, und weniger zahlen
die, welche mehr verdienen. Das ist die Logik der Kopfpauschale. 
Sechs Punkte lassen sich als ihr Ergebnis festhalten, und sie fallen 
allesamt negativ aus.
Erstens: Die Kopfpauschale ist ein Schlag gegen die Gerechtigkeit. 
Der soziale Ausgleich, der bisher mit Hilfe des 
einkommenproportionalen Beitrags krankenversicherungsintern zustande 
kam, soll jetzt durch das Finanzamt organisiert werden. Die 
einkommensschwachen Versicherten sollen einen staatlichen Zuschuss zu
ihrer Kopfpauschale erhalten.
Zweitens: Die Kopfpauschale löst mehr Staat und Transfer aus. 
Oberhalb der Einkommengrenzen, bis zu der staatlicher Zuschuss 
gezahlt wird, bleibt es bei der nivellierenden Wirkung der 
Kopfpauschale, die alle Einkommensunterschiede über einen Kamm 
schert. Die mittleren Einkommen zahlen die Zeche. Die sollten 
eigentlich durch die Steuerreform besonders entlastet werden.
Drittens: Die Finanzierung des steuerfinanzierten Zuschusses steht im
Widerspruch zu den Zielen der Steuerreform. Bei Ermittlung der 
Zuschussbedürftigkeit kann die Lohnhöhe nicht das einzige Kriterium 
sein. Ein Teilzeit arbeitender Millionär würde sonst zum 
Zuschussberechtigten erklärt. Also müssen alle Einkommensverhältnisse
der Zuschussempfänger aufgeblättert werden. Hartz IV lässt grüßen. 
Der Sozialstaat mendelt sich so zur allgemeinen 
Bedürfnisprüfungsanstalt.
Viertens: Die Kopfpauschale hat mehr Bürokratie im Gefolge. Der 
Arbeitgeberanteil an der Finanzierung der Krankenversicherung soll 
eingefroren werden. Damit zahlen die Arbeitnehmer alle zukünftigen 
Kostensteigerungen allein. Die Arbeitgeber sind aus der Anstrengung 
zur Dämpfung der Gesundheitskosten entlassen. Die Bundesvereinigung 
der Arbeitgeberverbände kann ihr Mitglied Pharmaindustrie von der 
Kette lassen. Die Entwicklung der Gesundheitskosten interessiert die 
Arbeitgeber fortan nicht mehr.
Fünftens: Das Festschreiben des Arbeitgeberbeitrages mindert den 
Druck auf die Kostensenkung. Die paritätische Finanzierung der 
Sozialversicherung und die Selbstverwaltung waren die Schule der 
Sozialpartnerschaft. In ihr wurde der Interessenausgleich zwischen 
Arbeitnehmer und Arbeitgeber eingeübt. Nach der Riester-Rente wird 
der schleichende Ausstieg aus der gemeinsamen Verantwortung der 
Sozialpartner für den Sozialstaat fortgesetzt. Der 
Krankenversicherung folgt die Pflegeversicherung. Die 
Pflegeversicherung soll durch eine kapitalgedeckte private 
Zusatz-Pflicht-Versicherung ergänzt werden, die nur von den 
Arbeitnehmern bezahlt werden soll.
Sechstens: Die Sozialpartnerschaft wird langsam, aber stetig platt 
gemacht. Am Ende des Weges steht das Bündnis der Verstaatlicher und 
der Privatisierer. Die einen brauchen den anderen. Die Verstaatlicher
bedürfen der Privatisierer, weil sie die Aufgabe einer relativen 
Lebensstandardsicherung nicht lösen können. Die Privatisierer sind 
auf die Verstaatlicher angewiesen, denn sie haben keine Antwort auf 
das Armutsproblem. Armut ist nämlich kein Geschäft.
Siebtens: Die Kopfpauschale und ihre Folgen führen in einen anderen 
Sozialstaat. Auf der Strecke bleibt die subsidiäre Solidarität, wie 
sie in einer auf Gegenseitigkeit angelegten und mit sozialem 
Ausgleich ausgestatteten Sozialversicherung grundgelegt ist.
Eine Reform des Sozialstaats müsste auf mehr staatsfreie, 
selbstverwaltete Solidarität zielen. Das Gegenteil ist der Fall. Die 
Geisterfahrer haben Vorfahrt.
Kopfpauschale oder Bürgerversicherung - in diesem Streit geht es um 
die Frage: "Wie kommt die Krankenversicherung ans Geld der Leute?" Es
sollte nicht der Sinn und Zweck der Krankenversicherung vergessen 
werden: Heilung von Kranken!
Und wo sind die Grenzen der Solidarität? Die Krankenversicherung ist 
nicht für alles zuständig, was das Wohlbefinden beeinträchtigt.
Rückfragen: Der Tagesspiegel, Politikredaktion, 030 29021 - 14301

Pressekontakt:

Der Tagesspiegel
Chef vom Dienst
Thomas Wurster
Telefon: 030-260 09-308
Fax: 030-260 09-622
cvd@tagesspiegel.de


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