Der Tagesspiegel: Terrorismusforscher Kai Hirschmann fordert neue Strategie im Kampf gegen den Terror
Berlin (ots)
Der Essener Terrorismusexperte Kai Hirschmann hat eine neue Strategie im Kampf gegen den Terror gefordert. Die Anschläge von London hätten gezeigt, dass sich das Täterprofil der Attentäter geändert habe, sagte er im Gespräch mit dem "Tagesspiegel". Bisher habe sich die Fahndung auf Leute konzentriert, die längere Zeit in Netzwerke der Al Qaida eingebunden waren. "Jetzt wurden die Täter relativ kurzfristig rekrutiert, mit Methoden, die einer Psychosekte ähneln", sagte Hirschmann. Der Terrorismusforscher forderte angesichts der neuen Bedrohung eine stärkere Vernetzung zwischen Geheimdiensten und Polizei. Bisher scheitere die internationale Zusammenarbeit gegen den Terror häufig daran, dass die verschiedenen Behörden ein Instrument nationaler Politik blieben.
Im folgenden das Interview im Wortlaut:
In London begingen Selbstmordattentäter die Anschläge. Herr Hirschmann, muss sich jetzt die Strategie gegen den Terror ändern?
Die Anschläge von London haben gezeigt, dass wir es mit anderen Täterprofilen zu tun haben. Die Fahndung muss sich mehr als bisher auf einzelne mögliche Täter konzentrieren. Bisher ging es um Leute, die schon längere Zeit in Netzwerke der Al Qaida eingebunden waren. Jetzt wurden die Täter relativ kurzfristig vor Ort rekrutiert, mit Methoden, die denen von Psychosekten ähneln. Die Attentäter gingen nicht mehr in irgendwelche Trainingslager, sie haben Osama Bin Laden nie gesehen, sondern kennen ihn nur als Guru aus dem Fernsehen. Deshalb sind sie auch nie auf den Radarschirmen der Geheimdienste aufgetaucht. Das gibt dem Ganzen eine andere Dimension und macht den Terrorismus gefährlicher.
In London gibt es tausende Überwachungskameras. Entschied sich Al Qaida für Selbstmordattentate, weil so im Vorfeld kein Verdacht geschöpft werden konnte?
Schaut man sich die Geschichte von Al Qaida an, dann wird klar, dass die Standardmethode immer der Selbstmordanschlag war. Es gab nur eine Ausnahme: die Anschläge von Madrid. Die Überwachungskameras sind kein großes Hindernis. Es gibt auch jetzt noch Möglichkeiten, Bomben in Zügen zu deponieren, ohne dass es auffällt. Insofern ist der öffentliche Nahverkehr nicht zu schützen. Nur im Nachhinein haben die Kameras etwas gebracht, weil mit ihrer Hilfe die Täter schneller ermittelt werden konnten.
Die Attentäter hatten Ausweispapiere an den Tatort mitgenommen. War das Absicht oder Dummheit?
Eine Absicht steckt wohl nicht dahinter. Es waren eben gewöhnlichere Leute beteiligt als bei bisherigen Al-Qaida-Anschlägen. Sie legten kein wirklich konspiratives Vorgehen an den Tag. Vielleicht haben sie sich einfach gedacht: Wenn ich unterwegs in eine Passkontrolle gerate, dann falle ich nicht auf.
Wie groß könnte das Potenzial an Selbstmordattentätern in Europa sein?
Wenn Al Qaida so vorgeht wie im Fall von London, dann ist das Potenzial quasi unbegrenzt. Klar ist allerdings, dass nur in einem bestimmten Segment rekrutiert werden kann. Das Potenzial, in dem es überhaupt einen Nährboden für solche Ideen gibt, liegt bei etwa fünf bis sechs Prozent der muslimischen Bevölkerung.
Nach dem Anschlag gab es zunächst Unmut bei den deutschen Sicherheitsbehörden: Die Briten hätten nicht ausreichend über die Anschläge informiert. Wie soll so der gemeinsame Kampf gegen den Terror gelingen?
Woran es wirklich fehlt, das ist der Wille, innenpolitisch die Polizei und die Geheimdienste zu vernetzen, langfristig vielleicht sogar zu verschmelzen. Polizei und Geheimdienste bleiben deshalb ein Instrument nationaler Politik. Zu Gunsten der Briten sollte man aber unterstellen, dass es keine taktischen Gründe gab. Vielleicht wussten sie selbst nicht viel, bis sie jetzt die Leute identifiziert haben.
Rot-Grün hat am Mittwoch ein "Anti-Terror-Daten-Gesetz" beschlossen. Was sehen diese Datensammlungen aus und was bringen sie?
Wegen des förderalen Systems haben wir keine zusammenhängende Datensammlung. Es würde schon etwas bringen, wenn wir in Deutschland alles zusammenführen würden, was wir über islamistische Zirkel wissen. Wir haben in Deutschland nur wenig Probleme damit, den klassischen Personenkreis zu identifizieren. Das größere Problem aber ist, Informationen über diesen Täterkreis zu vernetzen.
Kai Hirschmann ist Terrorismusforscher und Leiter des Instituts für Terrorismusforschung in Essen.
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