Der Tagesspiegel: zur Debatte um die Sterbehilfe
Berlin (ots)
Es ist noch gar nicht lange her, da erregte eine amerikanische Koma-Patientin namens Terry Schiavo die Gemüter der Welt, weil US-Gerichte darüber stritten, ob die Frau sterben dürfe. Ihr Ehemann wollte es so. Ihre Eltern wollten es nicht. Ein Fall für die Justiz, ein unlösbares Dilemma. Denn der Ehemann berief sich lediglich auf frühere Bemerkungen seiner nach einem plötzlichen Herzstillstand wiederbelebten, 15 Jahre bewusstlosen Frau, ein schriftliches Zeugnis für ihren Sterbewunsch gab es nicht. Terry Schiavo hat Geschichte geschrieben. Nicht zuletzt, weil die Apparate, die sie ernährten, schließlich auf richterliche Verfügung hin abgestellt wurden - über ihren Kopf hinweg. Wie ein ähnlicher Fall in Deutschland entschieden würde, man weiß es nicht. Die Rechtslage sei widersprüchlich und unübersichtlich, klagen Richter, der Bundestag nicht gewillt, sich um das Thema zu kümmern. Umso erstaunlicher ist, dass nun - überdeckt vom Berliner Koalitionsgetöse - ausgerechnet ein CDU-Mann, der hamburgische Justizsenator Roger Kusch, mit einem Tabu bricht: "Verantwortungsvolle, mitfühlende Sterbehilfe", sagt er, "ist kein Verstoß gegen humane Grundwerte, sondern ein Gebot christlicher Nächstenliebe." Da muss man erst einmal schlucken. Kusch äußert sich als Rechtsexperte. Er möchte die aktive Sterbehilfe aus dem Straftatbestand des Tötens auf Verlangen (Paragraf 216) herauslösen. Die Verabreichung von tödlichen Medikamenten wäre straffrei: eine Stärkung des Patientenwillens. Warum aber bemüht Kusch christliche Argumente? Nächstenliebe ist ein schlechter Ratgeber. Sie streichelt nur das Unbehagen an der modernen Macht, über Leben und Tod entscheiden zu können. Nein, das Problem, dessen sich zuletzt auch der Bundespräsident in einer bemerkenswerten Rede annahm, wird nicht auf der Kanzel gelöst. Nach einer neuen Forsa-Umfrage sprechen sich 74 Prozent der Bundesbürger für eine Verabreichung tödlicher Mittel aus, sofern der Kranke das will. Daraus spricht eine enorm hohe Bereitschaft, sich nicht an die Apparate-Medizin auszuliefern. Immer mehr Menschen wollen bis zuletzt an der Verfügungsgewalt über ihr Leben festhalten. Das ist der Kern dessen, was wie eine gewaltige Erosion abendländischer Gewissheiten aussieht. Da es keine verlässlichen Normen mehr gibt, nach denen unsere Gesellschaft sich für das Leben einsetzt, wollen die Menschen selbst entscheiden. Das Schiavo-Drama und andere Wachkoma- Fälle führen diesen Werteverfall nur am extremsten vor Augen. Das Recht auf freie Selbstentfaltung und das moralische Gewissen stehen einander gleichrangig gegenüber. Auch Patientenverfügungen garantieren nichts. Bei Bedarf sind sie bloß ein Stück Papier. Die Medizin hat dem Tod viel Terrain geraubt. Ihn dann doch walten zu lassen, ist für sie jedes Mal eine Niederlage. Es wäre ein Triumph anzuerkennen, dass er dazugehört. Leider.
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