Börsen-Zeitung: Risiken dominieren, Börsenkommentar "Marktplatz" von Thorsten Kramer
Frankfurt (ots)
Die aktuelle Lage an Europas Aktienmärkten ist nichts für schwache Nerven. Belastet von Ängsten vor einer massiven Verschärfung der Finanzkrise, gaben Europas Indizes bis Mittwochmittag so deutlich nach, dass sich die Akteure bereits auf weitere deutliche Verluste eingestellt hatten. Erst mit dem Rückgang des Ölpreises sowie unerwartet soliden Bilanzzahlen vieler US-Banken stabilisierte sich die Lage. In Frankfurt beendete der Dax, der zur Wochenmitte noch erstmals seit Oktober 2006 für einen Moment unter 6000 Punkte gerutscht war, den Freitagshandel bei 6383 Zählern. Im Vergleich zur Vorwoche bedeutet das ein kräftiges Plus von 3,7%.
Wenn der deutsche Leitindex in der neuen Woche die technisch wichtige Marke von 6300 Punkten behaupten kann, ist sogar noch mehr möglich. Schließlich ist der Markt technisch betrachtet längst überverkauft, nachdem der deutsche Leitindex seit Mitte Mai um mehr als 1000 Punkte abgerutscht war. Anleger dürfen daraus aber nicht den Schluss ziehen, dass nun das Schlimmste überwunden ist. Dazu haben die Belastungsfaktoren nach wie vor ein viel zu hohes Gewicht.
Das größte Risiko geht weiterhin von der Finanzkrise aus. Die Zahlen der meisten US-Banken, die bis dato ihre Bücher geöffnet haben, beruhigten zwar die Gemüter. Die daraus resultierenden Kurssprünge der Bankentitel lassen sich allerdings am besten damit erklären, dass viele Anleger, die auf weiter fallende Notierungen spekuliert hatten, offene Positionen glattstellen mussten. Fundamental besteht nach wie vor hoher Kapitalbedarf in der Branche, es dürften weitere Abschreibungen in Milliardenhöhe bevorstehen und es herrscht immer noch nicht genügend Transparenz, die es Investoren ermöglichen würde, die Folgen der Krise seriös einzuschätzen. Unter dem Strich bleibt Unsicherheit, und die ist bekanntlich Gift für die Börse.
Im Fokus steht zudem die Entwicklung am Ölmarkt. Ein überraschender Anstieg der Lagerbestände in den USA, ein leichter Rückgang des Wirtschaftswachstums in China sowie die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung im Atomkonflikt mit Iran drückten den Ölpreis in den zurückliegenden Tagen um rund 10%. Trifft jedoch die von vielen gegebene Einschätzung zu, dass der Preisanstieg der vergangenen Monate von der Nachfrage getrieben war und nicht von überbordenden Spekulationen, so dürfte der Ölpreis schon bald erneut Anlauf auf die Marke von 150 Dollar pro Barrel nehmen. Dies hielte die Inflationserwartungen auf hohem Niveau und nährte die Stagflationsängste der Anleger aufs Neue, da die Konjunkturindikatoren nach wie vor eine Abkühlung der Wirtschaft signalisieren und - nicht zuletzt - am US-Häusermarkt, dem Ausgangspunkt der Finanzkrise, längst noch kein Ende der Abwärtstendenzen erkennbar ist.
Schließlich ist der Pessimismus der Anleger zwar extrem groß, die für einen Ausverkauf am Aktienmarkt typische Panik war jedoch nicht zu beobachten. Die Volatilität stieg zwar über die vergangenen Wochen an, erreichte aber ebenso wenig wie die Handelsumsätze extreme Höhen, so dass man weiterhin nicht von einer finalen Marktbereinigung sprechen kann. Aktienstrategen vieler Investmentbanken haben längst analysiert, wie stark die Bärenmärkte der Vergangenheit die Aktienkurse unter Druck gesetzt haben. Die Ergebnisse dieser Studien sind nicht nur für diejenigen, die den Dax zum Ende des Jahres oberhalb von 8000 Punkten erwartet haben, starker Tobak. 5200 Zähler gelten den pessimistisch eingestellten Akteuren bereits als ein wahrscheinliches Dax-Szenario, zumindest dann, wenn die technischen Unterstützungslinien bei 5800 und 5500 nicht halten.
Bleibt die Frage, wann der Aktienmarkt zu einer nachhaltigen Kurserholung ansetzen wird. Die Antwort: Erst dann, wenn der Markt den langfristig agierenden Anlegern wieder mehr Orientierung, mehr Berechenbarkeit zubilligt und sich das Verhältnis von Chancen und Risiken wieder stärker in Richtung der Chancen verschiebt. Ein kräftiger Rückgang des Ölpreises und mehr Stabilität im Finanzsektor könnten dabei helfen. Solange dies aber nicht der Realität entspricht, wird der Markt lediglich für Trader interessant bleiben.
(Börsen-Zeitung, 19.7.2008)
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