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Börsen-Zeitung: Die Kernschmelze, Kommentar zum Insolvenz der US-Investmentbank Lehman Brothers von Bernd Wittkowski

Frankfurt (ots)

Zweiundzwanzig Jahre nach dem Super-GAU in der
Ukraine erlebt die Finanzwelt ihr eigenes Tschernobyl. Die 
Kettenreaktion im Banken-AKW hat vor gut einem Jahr mit dem 
Subprime-Desaster begonnen, das zusehends außer Kontrolle geriet. 
Eine gemeingefährliche Erhitzung der Brennstäbe war die Folge: IKB, 
Bear Stearns, Sachsen LB, Northern Rock, Merrill Lynch, Citi, UBS, 
IndyMac, Fannie Mae, Freddie Mac - et cetera. Und nun also der 
Bankrott der viertgrößten US-Investmentbank Lehman Brothers und - 
fast "nebenbei" - die 50 Mrd. Dollar schwere, der Vermeidung einer 
noch größeren Explosion dienende Notübernahme von Merrill Lynch durch
die Bank of America als vorläufiger "Höhepunkt" der Weltfinanzkrise: 
eine Kernschmelze im Bankensystem.
Die am Montag in Wall Street freigesetzte Radioaktivität wird sich
rund um den Globus niederschlagen und weite Teile des Finanzgeflechts
auf Jahre hinaus verstrahlt zurücklassen. Die Ursachen sind jenen der
nuklearen Havarie in Tschernobyl Block IV durchaus vergleichbar: 
haarsträubende Konstruktionsfehler, dilettierendes Personal und 
totales Versagen sämtlicher Sicherheitsmechanismen bzw. teilweise 
sogar deren bewusste Ausschaltung.
Wer, wie gestern die DekaBank, angesichts der Dramatik der 
Ereignisse von einem "reinigenden Gewitter" spricht, offenbart ein 
besonderes Faible für schwarzen Humor. Oder er verkennt die Tragweite
der vom früheren US-Notenbankchef Alan Greenspan als 
"Jahrhundertereignis" bewerteten - und von diesem selbst durch die 
Politik des billigen Geldes mitverschuldeten - 
wirtschaftshistorischen Geschehnisse. Noch vor sechs Monaten gab es 
in den USA fünf eigenständige reine Investmentbanken mit globalem 
Anspruch. Bis heute hat die Finanzkrise drei davon zerlegt. Bear 
Stearns, Nummer 5 der Branche, wurde im März mit generöser 
30-Mrd.-Dollar-Risikoübernahme der Fed herausgepaukt und zum 
Spottpreis der Universalbank JPMorgan zugeschlagen. Merrill flüchtet 
sich jetzt in die starken und rettenden Arme der Bank of America, die
Anfang des Jahres schon den maroden Hypothekenfinanzierer Countrywide
auffangen durfte und der Rolle eines Lumpensammlers im 
US-Finanzgewerbe offenbar nicht abgeneigt ist. Lehman Brothers 
schließlich, die Schutz vor ihren Gläubigern beantragen musste, steht
vor Zerschlagung und Abwicklung. Da waren's nur noch zwei: Goldman 
Sachs und Morgan Stanley.
Lehman wäre besser ein paar Wochen früher in höchste Not geraten. 
Aber nach Fannie, Freddie & Co. war aus Sicht Washingtons selbst eine
Bank mit 600 Mrd. Dollar Bilanzvolumen und 158 Jahren Tradition "not 
too big to fail". Irgendwann ist es eben nicht mal mehr dem 
Steuerzahler zuzumuten, ständig die Zeche der Zocker zahlen zu 
müssen. Diese kaum noch erwartete Konsequenz und der dahinter 
stehende Mut der US-Regierung sind uneingeschränkt zu begrüßen. 
Andernfalls hätte bald noch der letzte Investor geglaubt, im 
Finanzkasino gälten für die Moral-Hazard-Generation eigene Gesetze: 
Das Spiel ist prinzipiell ohne Risiko, Gewinne dürfen Aktionäre und 
Gläubiger kassieren, Verluste trägt die Allgemeinheit.
Wie reinigend würde das "Gewitter" wohl erst sein, wenn - was die 
Vernunft der Marktteilnehmer verhüten möge - womöglich noch die 
führende US-Bausparkasse Washington Mutual oder der weltgrößte 
Assekuranzkonzern AIG die Grätsche machte, wenn der eine oder andere 
Anleiheversicherer das Zeitliche segnete oder eine weitere - 
amerikanische oder europäische Großbank - von Lehman mit in den 
Abgrund gerissen würde? Heute wäre angesichts des engmaschigen 
weltweiten Finanznetzwerks schon die Pleite einer Bank weit 
geringerer Dimension keine national begrenz- und beherrschbare 
Angelegenheit mehr, auch wenn sich die direkten Engagements deutscher
Institute im konkreten Fall aus regierungsamtlicher Sicht im 
"überschaubaren Rahmen" halten und der daraus resultierende 
Abschreibungsbedarf verkraftbar sein mag.
Denn der Fallout von Finanz-Tschernobyl verseucht Gebiete weit 
jenseits der akut betroffenen Schuldner-Gläubiger-Ebenen. Er 
potenziert den ohnehin beispiellosen fundamentalen Vertrauensschaden 
im globalen Bankgewerbe und kann damit zur weiteren Verschärfung der 
seit dem vorigen Sommer grassierenden Liquiditätsversorgungskrise 
führen. Die Notenbanken sehen sich einmal mehr gezwungen, Kriterien 
und Konditionen ihrer Stützungsmaßnahmen zu lockern - was sicher kein
Beitrag zu nachhaltiger Stabilität ist.
Welche mittel- und langfristigen Folgen diese säkulare Katastrophe
für das Bankgewerbe und für die Volkswirtschaften insgesamt zeitigen 
wird, lässt sich direkt nach der Kernschmelze nicht konkret 
abschätzen. Die Wahrscheinlichkeit ist jedenfalls hoch, dass es für 
Banken wie für Industrieunternehmen zu spürbaren Engpässen bei der 
Beschaffung von Kapital und Kredit kommen wird. Und wer Assets 
loswerden muss, um Löcher zu stopfen, hat einen Preisverfall zu 
gewärtigen. Aber auch jene Häuser, die dank ihres eher geringen 
Exposure in den von Subprime & Co. hauptbetroffenen Wertpapieren 
bisher auf der Seite der Krisengewinner stehen - dazu gehören aus 
heutiger Sicht cum grano salis auch die deutschen Großbanken -, 
werden ihre Geschäftsmodelle auf den Prüfstand stellen müssen. 
Investment Banking war gestern.

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