Börsen-Zeitung: Kommentar von Stephan Lorz zum EuGH-Urteil zum Defizitstreit: Eichels Chuzpe
Frankfurt (ots)
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Defizitstreit stärkt den Stabilitätspakt nur auf den ersten Blick. Zwar wurde die Entscheidung des EU-Rats, in dem die EU-Länderregierungen versammelt sind, annulliert, wonach das Defizitverfahren für Deutschland und Frankreich ausgesetzt werden sollte. Auch haben die Richter das Initiativrecht der EU-Kommission bestätigt. Doch die Entscheidungsmacht des Rats wurde dabei in keiner Weise geschmälert. Die Richter haben dem Staatengremium sogar einen gewissen Ermessensspielraum zugebilligt. Nach wie vor kann die Kommission ihre Empfehlungen also nicht umsetzen, ohne um eine Mehrheit im Rat nachzusuchen. Und kommt die nicht zustande, liegen die Kommissionsvorschläge eben auf Eis. Die Länder können die nötige Mehrheit vorausgesetzt blockieren bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
Hätte der EU-Rat im November letzten Jahres also die Verfahrensregeln brav eingehalten und die Empfehlung der Kommission, die eine Verschärfung für die Defizitsünder Deutschland und Frankreich vorgesehen hatte, einfach zurückgewiesen die Lage wäre heute um keinen Deut besser. Zu einer weiteren Stufe im Defizitstreit wäre es dann ebenfalls nicht gekommen. Solange Deutschland und Frankreich eine Blockademehrheit hinter sich wissen, brauchen sie auch künftig keine Angst davor zu haben, für ihr unsolides Haushaltsgebaren zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Was das Straßburger Urteil jedoch aufgedeckt hat, ist die Chuzpe, mit der die EU-Finanzminister mit dem Stabilitätspakt umgegangen sind. Nicht einmal die Verfahrensregeln waren ihnen noch heilig. Sie haben sie wissentlich verletzt, um endlich aus dem Defizitverfahren herauszukommen. Vor dem Hintergrund des Richterspruchs gehört deshalb schon eine gehörige Portion Ignoranz und Dreistigkeit dazu, wenn Bundesfinanzminister Hans Eichel nun tönt, der Rat und auch Deutschland hätten den Pakt nicht gebrochen, die Ratsentscheidung damals sei rechtlich nicht zu beanstanden.
Will man die Verfahrensregeln künftig verbindlicher und strenger gestalten, kommt man um eine Reform des Paktes nicht herum. Um sich die dafür nötige Zustimmung bei den EU-Staaten zu erkaufen, wird man wohl oder übel auch die Defizitregeln etwas lockern und anpassen müssen. Ziel einer Reform muss es sein, keine Blockademehrheiten im EU-Rat mehr zustande kommen zu lassen, mit denen jedes Defizitverfahren auf unbestimmte Zeit in die Länge gezogen werden kann. Und schließlich müssen bei Ratsabstimmungen künftig jene Länder ausgesperrt werden, über deren Verfehlungen verhandelt wird.
(Börsen-Zeitung, 14.7.2004)
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