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Börsen-Zeitung: Europa am Scheideweg, Kommentar zur Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei von Christof Roche

Frankfurt (ots)

Die Kommission stellt die Europäische Union vor
eine der bedeutendsten Grundsatzentscheidungen in ihrer Geschichte.
Würde die Türkei heute Vollmitglied, kämen auf die EU jährliche
Zusatzkosten von 28 Mrd. Euro zu, die von den Nettozahlern, allen
voran Deutschland, aufgebracht werden müssten. Mit der Türkei steht
ein Land an der Schwelle der EU, dessen Bevölkerung nur auf gut ein
Viertel der Kaufkraft des EU-Durchschnitts kommt, das aber mehr als
zweimal so groß ist wie die Bundesrepublik.
Sicherlich: In den letzten 50 Jahren hat die Türkei einen
kontinuierlichen Westkurs gefahren. 1949 Mitglied des Europarats,
1952 als erstes und bislang einziges islamisches Land Mitglied der
westlichen Verteidigungsallianz Nato, 1963 das Assoziierungsabkommen
mit der damaligen EWG und 1996 die gemeinsame Zollunion EU/Türkei,
die einen weitgehend freien Warenaustausch ermöglicht. Und dass auch
die Wirtschaft Brüssel applaudiert, verwundert niemanden. In dem
Schwellenland am Bosporus locken in allen Bereichen – Infrastruktur,
Produktion, Konsum – lukrative Geschäfte.
Nun rückt die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei die EU an
einen Scheidepunkt. Die Regierung in Ankara macht schon jetzt massiv
Druck, um den Zeithorizont zu verkürzen. Nicht mehr von einer
Vollmitgliedschaft in weiter Ferne, sondern von fünf, sieben oder
allenfalls zehn Jahren spricht Ankaras Regierungschef Erdogan, um
neben Schröder und Chirac gleichberechtigt in Brüssel mitregieren zu
können. Die Türkei droht damit das bewährte Prinzip der graduellen
Weiterentwicklung in der EU auszuhebeln. Denn diese ist weder mit
ihrer Agrar- und Strukturpolitik noch mit dem Nizza-Vertrag oder
selbst der Verfassung für die Türkei gerüstet. Brüssel nimmt in Kauf,
die Gemeinschaft von der politischen Union zur Freihandelszone zu
degradieren. Statt Vertiefung nach innen und Erledigung überfälliger
eigener Reformen lädt sie im Gegenteil andere Staaten noch geradezu
ein. Denn wer will Weißrussland, die Ukraine oder Russland
fernhalten, wenn die EU schon auf dem asiatischen Kontinent
angekommen ist?
Die Kommission ist mit ihrer Empfehlung zu weit gegangen. Keine
Frage, die EU muss die europäische Perspektive Ankaras stützen. Aber
diese Annäherung könnte auch eine privilegierte Partnerschaft im
Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) leisten, um beide Seiten behutsam
auf einander vorzubereiten. Welche Marschroute die EU letztlich
einschlagen wird, darüber entscheiden die Staats- und Regierungschefs
im Dezember. Doch wer die Eigendynamik der EU- Erweiterungsprozesse
kennt, der weiß: Die Türkei wird Vollmitglied werden, und zwar
schneller, als die meisten dies glauben.
ots-Originaltext: Börsen-Zeitung

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