Börsen-Zeitung: Das Methusalem-Komplott Leitartikel von Peter Olsen zur Lage der deutschen Autoindustrie
Frankfurt (ots)
Ein Großteil der Finanzprobleme der deutschen Sozialversicherungssysteme ist der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung zuzuschreiben. Die demografische Keule wird auch negative Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Dynamik haben. Frank Schirrmacher hat diese säkularen Entwicklungen in seinem Bestseller Das Methusalem-Komplott treffend beschrieben.
Die deutsche Automobilindustrie sieht sich einem Methusalem-Komplott ganz anderer Güte gegenüber: Der deutsche Pkw-Bestand hat in diesem Jahr ein historisch hohes Durchschnittsalter von 92 Monaten also fast acht Jahren erreicht. Und da die Hersteller die Technischen Überwachungsvereine nicht schmieren können, damit diese reihenweise die Altware durch die Prüfung fallen lassen, und wohl auch die Vertragswerkstätten nicht angewiesen werden können, bei treuen Kunden mit (zu) alten fahrbaren Untersätzen Horror- Reparaturrechnungen anzudrohen, muss die Branche weiter warten. Warten darauf, dass sich der seit Jahren aufgestaute Ersatzbedarf endlich auflöst.
Und eigentlich wäre es natürlich schön, wenn sich die Kaufzurückhaltung nicht wie bei einem Staudammbruch sintflutartig über die Hersteller ergießt, sondern mit schönen Wachstumsraten über eine ganze Reihe von Jahren. Dass es so kommen könnte, dafür haben die Hersteller gerade in den vergangenen Jahren alles in ihrer Möglichkeit Stehende getan. Noch nie gab es so viele verschiedene Modellvarianten, selten waren die Angebotspaletten so prall mit Neuheiten wie in diesen Tagen. Und kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein Hersteller für die nächsten Jahre eine Modelloffensive ankündigt.
Angesichts dieser Lage fühlt man sich an das alte Schiller-Wort (Karl, nicht Friedrich!) erinnert: Man kann die Pferde zur Tränke führen, aber saufen müssen sie selbst. Das Angebot an attraktiven Produkten seitens der Autoindustrie ist da, allein der private Käufer greift trotz vorhandener Geldmittel nicht zu. In einer solchen Situation helfen offenbar selbst intensivste Kaufanreize bis hin zur Null-Prozent-Finanzierung nicht weiter. Laut Verband der Automobilindustrie (VDA) liegen derzeit die Pkw-Bestellungen der privaten Haushalte um 30% unter dem Niveau von 1999!
Das hat gewiss viel mit Psychologie zu tun, denn solange abhängig Beschäftigte Angst um ihre Arbeitsplätze haben, werden sie sich mit Großinvestitionen wie Hauskauf oder Anschaffung eines fabrikneuen Fahrzeugs zurückhalten. Und der zuletzt aus der misslichen Ertragslage in weiten Teilen der Autoindustrie verschärfte Druck auf die Lohnkosten trägt gewiss nicht dazu bei, die Kauflust zu fördern. Die Hängepartie bei Opel kann daher den deutschen Herstellern gar nicht recht sein, denn alle sind dringend auf deutlich steigende Inlandsverkäufe bei nachlassenden Rabatten angewiesen. Zwar hat sich auch 2004 der Export wieder als der zuverlässigste Stoßdämpfer auf einer ansonsten holprigen Strecke (VDA-Präsident Bernd Gottschalk) erwiesen. Die schwierige Lage am wichtigen US-Automobilmarkt und der noch dazukommende Wettbewerbsnachteil wegen der anhaltenden Dollarschwäche aber verlangen nach einem Ausgleich anderswo. Und da sich die Blütenträume in China zumindest vorübergehend nicht erfüllen, Lateinamerika erst allmählich aus einem Tief hochkommt, in Westeuropa dank Überkapazitäten ein Preiswettwerb wie sonst kaum noch auf dem Globus herrscht, sind Gewinne aus dem seit Jahren schwachen Inlandsmarkt wichtiger denn je.
Zumindest der VDA müht sich deshalb redlich, die Lage nicht unbedingt schönzureden, aber doch gleichwohl gewisse Zuversicht zu verbreiten. Ungewöhnlich scharf griff der Verbandspräsident die Schwarzmalerei bezüglich des Automobilstandorts Deutschland an, Regierung wie Opposition warf er im Streit um notwendige Reformen Angstkommunikation vor. Aber ob es die verschreckten Autokäufer in die Schauräume der Händler treiben wird, nur weil ein Verbandspräsident betont, Deutschland bleibt unser wichtigster automobiler Standort man darf daran zweifeln.
Vertrauen kann man nicht befehlen, Vertrauen muss Stück für Stück aufgebaut werden. Dazu passt es nicht, wenn Politik und Wirtschaft selbst regelmäßig mit ihren negativen Äußerungen zur Standortqualität den Attentismus mit immer gleichen, abgestandenen Argumenten am Leben erhalten. Die Chancen stehen in diesen Wochen nicht schlecht, dass aus Konsumneigung auch mehr Konsum wird. Nicht, weil die Bürger tatsächlich mehr Geld zur Verfügung haben, eher deshalb, weil sie es leid sind, als lästiger Kostenfaktor ständig in Sack und Asche zu gehen. Es gibt in Teilen der Bevölkerung das Gefühl, sich endlich, trotz der anhaltenden Unsicherheit über die Zukunft, wieder einmal etwas gönnen zu wollen. Attraktiv niedrige Preise können ein Übriges dazu beitragen, dass der inländische Konsum als konjunkturelle Triebfeder endlich dem allein gelassenen Export zu Hilfe kommt. Ist der Schalter erst einmal umgelegt, entfalten sich die Wachstumskräfte von selbst, schwinden die Ängste.
Alles ist Psychologie. Insoweit ist es taktisch völlig in Ordnung, wenn die wichtigste Industrie des Landes, die für jeden vierten investierten Euro steht, sehr vorsichtig nach vorne blickt. Aber der Ersatzbedarf am Automarkt, der sich gewiss in eine Dimension von 1 Million Pkw aufgestaut hat, muss irgendwann einmal zu echter Nachfrage werden. Warum nicht 2005?
(Börsen-Zeitung, 11.12.2004)
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