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Börsen-Zeitung: Deutschland im Überschwang, Kommentar von Claus Döring zur derzeitigen Wirtschaftsstimmung

Frankfurt (ots)

Zufriedenheit, wohin man schaut in Deutschland.
Der Einzelhandel meldet erstmals seit Jahren gute Zahlen, am Bau 
brummt es regelrecht, Elektroindustrie, Maschinenbau und chemische 
Industrie freuen sich über volle Auftragsbücher, die deutschen 
Autohersteller schwelgen im Absatzerfolg auf den Auslandsmärkten. Der
Exportweltmeister Deutschland klopft sich auf die Schultern. Die 
Steuereinnahmen übertreffen die Schätzungen, selbst die 
Arbeitslosenzahl sinkt unter 4 Millionen. Der Aufschwung ist für 
jedermann sichtbar geworden. Doch jetzt droht Überschwang. Die 
Stimmung ist besser als die Lage - in der Politik, in der Wirtschaft,
an den Finanzmärkten.
In der Politik meint man die Hände bereits in den Schoß legen zu 
sollen. Es wird eine Reformpause gefordert, ehe wirkliche Reformen 
begonnen haben. Anstatt den wirtschaftlichen Rückenwind und die 
breite parlamentarische Mehrheit zu Strukturreformen zu nutzen, wird 
vom Ende der "Zumutungen" gesprochen. Die große Koalition der 
Volksparteien denkt an die Landtagswahlen im Jahr 2008, schaut dem 
Volk aufs Maul und setzt auf den starken Staat, der ein Sozialstaat 
sein soll. Den Bürgern wird verschwiegen, dass der Sozialstaat einen 
Zwillingsbruder hat, den Abgabenstaat. In Gestalt höherer 
Mehrwertsteuer und steigender Krankenkassenbeiträge werden ihn die 
Bürger im neuen Jahr zu spüren bekommen. Diese laufende Entmündigung 
des Bürgers, indem ihm die Entscheidungsgewalt über die Verwendung 
seines Einkommens weiter beschnitten wird, ist die wahre Zumutung.
In der Wirtschaft werden volle Auftragsbücher und steigende 
Gewinne extrapoliert. Dabei ist der Zugewinn an Wettbewerbsfähigkeit 
vor allem günstigeren Kostenstrukturen zu verdanken, sei es durch 
Rationalisierung oder durch Produktionsverlagerungen. Diese Prozesse 
sind nicht ständig wiederholbar. Niedrige Kapitalkosten und sinkende 
Lohnstückkosten haben mehr als Innovationen und neue Produkte zum 
steilen Anstieg der operativen Margen in den Unternehmen beigetragen.
Doch die Gewinnsteigerungen verstellen den Blick darauf, dass die 
unternehmerische Basis erodiert, die Innovationskraft nachlässt. 
Leistungsträger suchen ihre berufliche Zukunft immer öfter im 
Ausland. Deutschlands demografisches Problem besteht nicht nur in der
Überalterung an Jahren, sondern auch in der Überalterung im Wissen.
An den Finanzmärkten wird 2006 als Jahr der Aktie gefeiert. Die 
Aktienhausse geht ins fünfte Jahr, der Dax hat sich seit seinem Tief 
aus dem Frühjahr 2003 mit knapp 6600 Punkten gut verdreifacht. Bei 
den Börsenumsätzen fehlt nicht viel zum Rekordvolumen des Jahres 
2000. Dennoch: 2006 war kein gutes Jahr für die Aktie. Als Instrument
der Unternehmensfinanzierung hat sie stark an Bedeutung verloren. 
Eigenkapitalbeschaffung über die Börse ist Luxus, den sich die 
meisten Unternehmen sparen (können). Fremdkapital gibt es reichlich 
zu niedrigen Zinsen. Trotz der rund 200 Erstnotierungen in 
Deutschland sind mit Börsengängen nur 6,8 Mrd. Euro eingesammelt 
worden. Zum Vergleich: 1999 waren es 13 Mrd., im Jahr 2000 sogar 25,5
Mrd. Euro. Gemessen an der Börsenkapitalisierung liegt die Aufnahme 
neuen Eigenkapitals über die Börse auf dem Niveau der achtziger 
Jahre.
Auch als Akquisitionswährung ist die Aktie uninteressant geworden.
Die meisten Transaktionen gingen 2006 in bar über die Bühne oder mit 
einem geringen Aktienanteil. An der Börse wird dies als Zeichen dafür
gewertet, dass es am Aktienmarkt noch nicht zu einer Überhitzung 
gekommen ist und die Kursrally 2007 weitergeht. Diese Einschätzung 
könnte ein Trugschluss sein. Denn auf Einkaufstour sind auch 
Finanzinvestoren, die überhaupt nicht über eigene Aktien verfügen. 
Dafür haben sie die Taschen voller Milliarden von institutionellen 
Anlegern. Der Anlagedruck führt zu Preisen, die sich nur in 
Best-Case-Szenarien rechnen. Wenn die Notenbanken angesichts der 
Liquiditätsschwemme und Inflationsgefahr 2007 die Zinsen weiter 
anheben, werden viele Kalkulationen nicht mehr aufgehen.
Ein Schuss mehr Skepsis beim Blick aufs neue Jahr ist angebracht.
(Börsen-Zeitung, 30.12.2006)

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