Weser-Kurier: Der "Weser-Kurier" (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 30. April 2012 die Boykottdrohungen gegen EM-Gastgeber Ukraine:
Bremen (ots)
Sport und Schuld
von Joerg Helge Wagner
Wenn Politik auf Sport trifft, verliert letzterer seine Unschuld - eine Binsenweisheit, wird mancher jetzt gähnen und auf einschlägige Erfahrungen verweisen: die Olympischen Spiele 1936 in Berlin, 1980 in Moskau oder 2008 in Peking etwa, allesamt von waschechten Diktaturen zur Selbstdarstellung missbraucht. Also könnte man sich wie unsere Formel-1-Helden wegducken. Michael Schumacher und Sebastian Vettel äußerten jüngst in Bahrain, dass sie dort bloß "ihren Sport betreiben" wollten und dass sie deshalb keine Meinung zur zeitgleich niedergeknüppelten Opposition abgeben könnten. Das ist kaltschnäuzig oder naiv, denn natürlich wollte sich auch König Hamad ben Issa al-Chalifa mit dem bei ihm gastierenden Grand-Prix-Zirkus schmücken. Immerhin: Kein Medium ließ die Menschenrechtsverletzungen unerwähnt, die Opposition bekam etwas mehr Aufmerksamkeit als sonst und nach einem Wochenende war der vermeintliche Prestige-Gewinn des Potentaten verpufft wie die Abgase der Boliden. Der Fall Ukraine wiegt weitaus schwerer, denn sie wird ab dem 8. Juni drei Wochen lang im Fokus der weltweiten Medien stehen. Das große, aber labile Land im Osten Europas ist weder eine lupenreine Demokratie noch eine waschechte Diktatur - Julia Timoschenko hin und die aus ihren Buden vertriebene Studenten her. Wissenschaftler würden von einer "Transfergesellschaft" sprechen. Das sind Staaten, die aus Kriegen oder Diktaturen hervorgegangen sind und die sich auf eine Weggabelung hinbewegen: Rückfall in ein autoritäres Regime oder allmähliche Demokratisierung. Die Begleiterscheinungen sind immer gleich: Korruption, Bereicherung/Verarmung, unsaubere Wahlen, Missachtung von Menschenrechten. Umso wichtiger ist es, auf diese Missstände hinzuweisen und ihr Ende zu fordern, erst Recht mitten in Europa. Spitzensportler sollten sich nicht darauf zurückziehen, dass dies ausschließlich der Job von Spitzenpolitikern sei. Es ist gut, dass sich Uli Hoeneß anders verhält als Schumacher und Vettel. Sein Appell an die Spieler, ihre Solidarität mit Regimekritikern zu äußern, verdient Respekt. Er erinnert an jene sechs iranischen Nationalspieler, die bei der WM-Qualifikation 2009 mit grünen Armbändern aufliefen, um die Opposition in ihrer Heimat zu unterstützen. Das hat das Regime zwar nicht gestürzt, aber es hat ihm einen Propaganda-Erfolg verwehrt. Und es hat gezeigt, dass Sportlern nicht alles jenseits von Zeiten und Punkten schrecklich egal ist. Wenn Sport auf Politik trifft, muss er nicht immer seine Unschuld verlieren. <QM>joerg-helge.wagner@weser-kurier.de
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