Weser-Kurier: Kommentar zum Wahlrechtsurteil
Bremen (ots)
Die erneute Klatsche aus Karlsruhe hat sich die schwarz-gelbe Koalition redlich verdient. Es ist zudem eine Niederlage, die absehbar war. Denn Union und FDP haben nicht nur die vom höchsten deutschen Gericht 2008 gesetzte Drei-Jahres-Frist für eine Wahlrechtsreform zunächst verstreichen lassen und damit mangelnden Respekt gegenüber dem Bundesverfassungsgericht gezeigt. Sie haben auch die Kritik der meisten Verfassungsrechtler an ihrem Gesetz einfach ignoriert und erstmals eine Wahlrechtsreform ohne die Opposition durchziehen wollen. Das ist Machtpolitik, aber kein Respekt gegenüber der Verfassung. All das haben Deutschlands höchste Richter nun mit einer schallenden Ohrfeige für die Koalition beantwortet. Die Begründung, das neue Wahlrecht verstoße gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie gegen die Chancengleichheit der Parteien, spricht eine deutliche Sprache. Denn schon vor vier Jahren hatten die Karlsruher Richter das Phänomen des "negativen Stimmgewichts" gerügt, das durch Überhangsmandate entstehen kann. Daran hat die Koalition ganz bewusst grundsätzlich nichts ändern wollen, weil vor allem die Union von dieser Regelung profitiert. Die Karlsruher Richter hatten in früheren Urteilen die Überhangmandate noch nicht beanstandet. Doch nun sehen sie, wie die meisten Wahlrechtsexperten, angesichts der fortschreitenden Zersplitterung des Parteiensystems die große Gefahr, dass immer mehr Überhangmandate für eine Partei ohne Ausgleich für die anderen zu einer massiven Verfälschung des Wählerwillens führen können. Denn das komplizierte Verrechnungssystem der Mandatsverteilung bewirkt, dass nicht mehr jede Stimme gleich viel zählt. Dennoch ist das Karlsruher Urteil leider nicht völlig konsequent. Die Begrenzung auf etwa 15 zulässige Überhangmandate bannt die Gefahr einer Verzerrung des Wählerwillens nicht völlig. Besser wäre es gewesen, wenn Karlsruhe eine komplette Abkehr vom Zweitstimmen-Modell verlangt hätte. Bei den Wahlen von 1949 und 1953 hatte es den Ärger um die Überhangmandate nämlich überhaupt nicht gegeben - weil damals ein Kreuz auf dem Wahlzettel genügte, den exakten Wählerwillen zu ermitteln.
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