Rheinische Post: Diese Wahl sagt wenig und viel Kommentar Von Sven Gösmann
Düsseldorf (ots)
Diese Europawahl könnte man mit ein paar Zahlen erklären und schulterzuckend zum nächsten Wahltermin weiterziehen: Etwa mit 43 Prozent der desaströsen Wahlbeteiligung als weiterem Beleg für die Distanz zwischen Europa und dem Bürger. Den 31 Prozent und ein bisschen für die Kanzlerinnenpartei wahrlich kein sanftes Ruhekissen. Den 48 bayerischen Prozent und ein bisschen für die Seehofer-Guttenberg-CSU weniger als früher und trotzdem ein Mutmacher. Oder den 21 und nix einem historischen Tiefschlag für die Steinmeier-Opel-Arcandor-SPD. Den 10 Prozent plus x dem europäischen Rekord-Ergebnis für die Liberalen. Und den 12 Prozent und ein paar Gequetschten die Altbauwohnungs-Grünen sind zur Wahl gegangen. Doch diese Europawahl verdient ein genaueres Hinschauen. Also: Viele werden sagen, der eigentliche Wahlverlierer sei die europäische Idee. Das stimmt so nicht. 75 Prozent der Deutschen geben an, sehr zufrieden mit den Segnungen der europäischen Einigung zu sein. Die meisten Bundesbürger wissen, was sie an Europa haben. Anders als etwa in den Niederlanden, in Österreich oder Großbritannien hatten europafeindliche Rechtspopulisten bei uns keine Mobilisierungskraft und Chance. Die Deutschen nehmen allerdings die europäischen Institutionen nicht als von ihnen mit zu gestaltende Einrichtungen, sondern als Behörde wahr. Die Parteien tun zu wenig gegen diesen Eindruck, indem sie Europawahlen wie auch dieses Mal wieder zu nationalen Stimmungstests umfunktionieren. So gehen nur die Interessierten zur Wahl und ein paar ewige Protestierer. Der Rest bleibt daheim nach dem Motto: Den Leiter des Ordnungsamts in meiner Gemeinde wähle ich ja auch nicht. Man muss sich ins Gedächtnis rufen, dass auch Nichtwählen ein demokratisches Recht ist. Großer Verlierer dieser Wahl sind die Sozialdemokraten. Sie haben nach der hessischen Landtagswahl im Januar und der Bundespräsidentenwahl im Mai nun schon zum dritten Mal ihre Dauerkrise manifestiert: ohne erkennbare Strategie, mit einem erschöpfter als früher wirkenden Müntefering an der Spitze und einem blassen Kanzlerkandidaten Steinmeier taumeln sie von Niederlage zu Niederlage. Die sozialdemokratischen Stammwähler bleiben auf dem Sofa sitzen, so dass man sich schon fragen darf, ob sie überhaupt noch Stammwähler sind: Immerhin 37 Prozent der möglichen SPD-Wähler gefällt es zudem laut einer Umfrage nicht, dass die SPD mit viel Steuergeld große Unternehmen rettet und kaum über die kleinen Betriebe redet, die derweil untergehen. Wie die SPD mit den öffentlichen Finanzen hantiert, mag ebenfalls dazu beitragen, dass die Partei bei den Wählerschichten zwischen 30 und 44 Jahren mit nur 17 Prozent ein deprimierendes Ergebnis einfuhr, von den Jüngeren zu schweigen. Diese Generationen wissen, dass sie später die Zeche für diese Politik zahlen müssen. Vorerst muss sich die SPD mit der Tatsache trösten, dass die Beteiligung bei Bundestagswahlen immer fast doppelt so hoch lag wie gestern. Genau diese Tatsache sollte Union und FDP beim Blick auf den 27. September auch vor verfrühter Euphorie bewahren. Das gestrige Ergebnis mag Schwarz-Gelb beflügeln, wahrscheinlicher ist ein bürgerliches Bündnis dadurch noch nicht geworden. Wahlentscheidungen sind zunehmend unberechenbar. Gestern gaben immerhin gut 40 Prozent der Wähler an, sich erst am Wahltag oder kurz davor für eine Partei entschieden zu haben. Da kann ein Ereignis unmittelbar vor einer Wahl vieles beeinflussen es muss nicht gleich wie 2002 eine Flutkatastrophe sein. Spielte die Wirtschaftskrise bei dieser Wahl eine Rolle? Gewiss, jedoch anders als erwartet. Noch ist die Krise vor allem ein Thema der Eliten, viele Bürger erreicht sie zeitverzögert: Der alarmierende Zusammenbruch symbolträchtiger Unternehmen wie Opel wurde vorerst vermieden, der Ausbau der Kurzarbeit verlangsamt den Anstieg der Arbeitslosenzahlen, finanziell mildern die im letzten Jahr ausgehandelten Lohnerhöhungen und fallende Preise bei Gas und Öl manches ab. So beherrscht die Krise zwar die Nachrichten und viele Gespräche, aber noch nicht die Realität weiter Teile der Gesellschaft. Auch das kann im Herbst ganz anders aussehen. Diese Europawahl also sie war nur ein Zwischenstopp der politischen Karawane. 111 Tage bis zur Bundestagswahl.
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