Von Wilmington nach Leipzig
Politik (ots)
von Moritz Döbler
Diese Lebensfreude, diese Leidenschaft! Als klar war, dass Donald Trump die Präsidentschaftswahl verloren hatte, zog es die Menschen in vielen amerikanischen Städten nach draußen. Münder und Nasen mit Masken bedeckt, tanzten sie auf Plätzen und Straßen, schwenkten Flaggen und feierten nach tagelanger Anspannung. Was müsste passieren, dass sich die Deutschen derart begeistern? Eine klar entschiedene Bundestagswahl vermutlich nicht, allenfalls eine weitere gewonnene Fußball-Weltmeisterschaft.
Der Sieg von Joe Biden und vielleicht noch mehr von Kamala Harris, der designierten Vizepräsidentin, sorgte für Partystimmung. Dabei liegen die schwierigsten Aufgaben noch vor den beiden. Trump versucht, ihnen den Sieg mit juristischen Mitteln abzutrotzen oder mindestens madig zu machen. Klar geschlagen, will er von der Niederlage doch nichts wissen. In gut zwei Monaten muss er das Weiße Haus verlassen, aber noch macht er keine Anstalten. Und er dürfte auch danach Unfrieden zu stiften versuchen.
In ihren Reden betonten Biden und Harris abermals, wie sie auf die Aussöhnung, die Heilung der polarisierten Gesellschaft hinarbeiten wollen. "Wir müssen die Seele Amerikas wiederherstellen", rief Biden. "Jetzt beginnt die richtige Arbeit, die harte Arbeit, die gute Arbeit", kündigte Harris an. Da zeigten sich Pathos und Vernunft, Zuversicht und Kraft - ein großer amerikanischer Moment. Doch sosehr die Absicht wertzuschätzen ist: Rund 70 Millionen Menschen haben für Trump gestimmt und werden nur schwer für diesen neuen Kurs zu gewinnen sein. Der Riss, den die meisten Präsidenten wenigstens verdecken wollten, klafft nun weit auseinander. Der Anti-Demokrat im Weißen Haus hat ganze Arbeit geleistet.
Eine derartige Polarisierung zweier nahezu gleich großer Blöcke kennt Deutschland nicht. Aber eine antidemokratische Melange, die auf Corona pfeift und gegen das angebliche Establishment agitiert, zeigt sich, freilich in kleinerem Maßstab, auch hierzulande. Die Szenen der Wut in Leipzig spielten sich nahezu gleichzeitig zu den Szenen der Freude auf der anderen Seite des Atlantiks ab und sollten Deutschland eine Mahnung sein.
Denn zu der Versöhnung, die sich Biden und Harris vorgenommen haben, muss es auch hierzulande dringend kommen, und es wäre viel gewonnen, wenn damit nicht erst nach der Bundestagswahl in einem Jahr begonnen wird. Wenn die Scherben erst mal daliegen, lassen sie sich umso schwerer kitten. Hier wie dort spielen ökonomische Unsicherheit und Angst eine große Rolle, hier wie dort zeigt sich Unzufriedenheit mit dem öffentlichen Diskurs und den politischen Abläufen.
Die Bundeskanzlerin, die Physikerin der Macht, hat die Deutschen erfolgreich durch zahlreiche Krisen gesteuert, wenn man die Ergebnisse ihrer Politik in Relation zur Lage anderer Nationen setzt. Aber ihre kaum zu überbietende Nüchternheit und die immer wieder beschworene Alternativlosigkeit ihres Handelns setzen nicht die Wärme frei, die es jetzt braucht und die sich bei Biden und Harris erleben lässt. Vor 30 Jahren hat Deutschland seine politische Einheit wiederhergestellt, aber es ist kein geeintes Land. Die Risse verlaufen heute nicht vornehmlich zwischen Ost und West, sondern entlang der Perspektiven, die Menschen für sich in dieser durchglobalisierten und -digitalisierten Gesellschaft sehen. Das Gefühl von Ohnmacht führt zu Angst und Wut.
Wie sich dem Populismus trotzen lässt, muss sich in den USA wie in Deutschland noch zeigen. Aber Biden und Harris lassen einen Weg erahnen - es gilt, in der Politik mehr zu erklären und vor allem mehr zu begeistern. Die USA mussten Trump vier Jahre lang regieren lassen, um zur Besinnung zu kommen. Er hatte das demokratische System, das er wieder und wieder verächtlich macht, zu seinem Vorteil genutzt. So weit darf es in Deutschland gar nicht erst kommen. Eine der Lehren lautet: CDU und CSU sollten sich für das Wahljahr schleunigst und überzeugend sortieren. Denn es geht um die innere Einheit Deutschlands.
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