Rheinische Post: Wer nichts wagt, gewinnt
Düsseldorf (ots)
Von Sven Gösmann
Bei den drei Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt haben die drei Volksparteien erfolgreich abgeschnitten. Drei Volksparteien? Drei: die CDU in Baden-Württemberg und mit Abstrichen in Sachsen-Anhalt; die SPD in Rheinland-Pfalz; überall jedoch lagen die Nichtwähler vorn. In Sachsen-Anhalt maßen die Demoskopen mit 44 Prozent die niedrigste Beteiligung bei einer Landtagswahl überhaupt. Zweitstärkste Kraft wurde dort die PDS mit ihren Heilsversprechen. Im Südwesten wie an Rhein und Mosel gingen ebenfalls erheblich weniger Menschen als früher zur Wahl. Sie erwiesen sich aber als immun gegen Parolen von links und rechts. So blieb die These, dass große Koalitionen zu einem Ausfransen der politischen Ränder führen, noch ohne durchgehenden Beleg. Das schrumpfende Interesse der Bevölkerung an der Gestaltung der eigenen Verhältnisse, indem man das Wahlrecht als Bürgerpflicht versteht, bleibt aber die alarmierendste Erkenntnis dieses "Super-Wahlsonntags". Die Kanzlerin und ihre große Koalition werden sich trotzdem bestätigt fühlen. Diejenigen, die ihre Stimme abgaben, stärkten Schwarz-Rot. Regionale Ausreißer, wie das sehr gute Abschneiden der SPD von Ministerpräsident Kurt Beck in Mainz, unterstreichen diese Analyse nur: Wer verkörpert mehr als der gemütliche Pfälzer mit seiner Allen-wohl-und-niemand-wehe-Rhetorik jene Sehnsucht nach Harmonie, die kein Bündnis besser erfüllt als die große Kuschelkoalition? Prompt dürfte es eine weitere Auflage dieses Modells in Magdeburg geben, wo Ministerpräsident Böhmer ebenfalls den wärmenden Mantel des Landesvaters über alle Probleme deckte. Die Wähler und sogar die Nichtwähler haben gestern ihrer präsidial auftretenden Kanzlerin und Schwarz-Rot einen zeitlichen Kredit eingeräumt. Diesen Kredit könnte Angela Merkel schon in dieser Woche nutzen. Die Beratungen über Haushalt und Gesundheitsreform in den kommenden Tagen bieten genügend Stoff für den Reform-Startschuss. Die Geduld, die die Wähler bewiesen haben, könnte diesen aber gerade verhindern. Der Ruf nach mehr Mut zu Veränderungen ist gestern schon zum zweiten Mal nach der Bundestagswahl nicht belohnt worden. Eine alternative Mehrheit zur Politik der kleinen Schritte von Schwarz-Rot existiert derzeit nicht. Wie zur Bestätigung flogen die verbalradikalen Freidemokraten aus zwei Landesregierungen. Die orientierungslosen Grünen sitzen überhaupt nur noch in sieben Länderparlamenten. So bemühten sich die Spitzen von Union und SPD auch eilig, aus den Wahlergebnissen eine rückhaltlose Unterstützung ihres bundespolitischen Kurses herauszulesen. Reformwillen aber entsteht nur durch Leidensdruck. Den verspürt die große Koalition seit gestern kaum mehr. Es wird zwar viel von Veränderung geredet, ob den Worten aber Tagen folgen? Nach diesem Wahltag bleiben Zweifel.
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