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Rheinische Post: Reformen - gut, dass wir drüber geredet haben

Düsseldorf (ots)

Von Sven Gösmann
Die roten Fahnen werden prächtig im Frühlingswind flattern. Ein 
paar hundert, mancherorts sogar ein paar tausend Menschen werden auch
heute wieder zu den Maifeierlichkeiten kommen. Wer nur in Richtung 
Bühne schaut, wo sich die zweite oder gar die erste Garde der Politik
mit Festtagsreden abmüht, könnte glatt die hässlichen Lücken 
übersehen, die an diesem 1. Mai auf den Marktplätzen klaffen werden.
Kaum ein Tag gewährt so wie der 1. Mai einen Einblick in die 
Klamottenkiste unseres in die Jahre gekommenen Gemeinwesens. Dieser 
"Tag der Arbeit" und die meisten seiner Akteure sind noch nicht in 
der neuen Realität der Bundesrepublik angelangt: Nur noch 39 Prozent 
der Menschen leben von der eigenen Arbeitsleistung. Die Zahl der 
Arbeitslosen oder in Beschäftigungsmaßnahmen versteckten Jobsuchenden
schätzen Kenner des Systems auf acht Millionen und mehr.
Fast jeden zweiten erwirtschafteten Euro in diesem Land gibt der 
Staat aus, in der Regel für Subventionen, die den Ist-Zustand 
zementieren, nicht für Investitionen in die Zukunft. Unter mäßiger 
Anteilnahme der Bevölkerung dümpeln ein paar Streiks vor sich hin. 
Die Gewerkschaftsbewegung, die dabei zu besichtigen ist, bildet vor 
allem eine Interessenvertretung von Besitzstandswahrern: 
Arbeitsplatzbesitzer demonstrieren für ihre kommode Arbeitszeit von 
38,5 Stunden oder Lohnforderungen, die Staat oder Unternehmen die 
Luft abwürgen.
Letztlich aber interpretieren die Gewerkschafter bloß die Signale der
Berliner Politik. Es ist kein Wunder, dass der Tarifpoker mit 
Warnstreiks und Nachtsitzungen in überheizten Mittelklassehotels noch
vor ein paar Monaten ins letzte Jahrhundert zu gehören schien und 
"unter der Käseglocke der großen Koalition" (Politik-Flüchtling 
Friedrich Merz) plötzlich ein Comeback erlebt.
Die von der Angst vor Arbeitsplatzverlust, vor allem aber vor 
Veränderung geprägte Mittelschicht und ihre gewerkschaftlichen 
Vertreter fühlen sich durch Worte und Taten oder eben die 
ausbleibenden Taten der Groß-Koalitionäre ermuntert. Wenn sich in 
Berlin schon nix tut, warum soll ich mich dann bewegen, fragen sie 
sich.
Spricht also der neue SPD-Chef Kurt Beck vom "vorsorgenden 
Sozialstaat" als Zukunftsmodell, verstehen alle "versorgender 
Sozialstaat". Predigt die Kanzlerin Maßhalten, löst aber gleichzeitig
die Ausgabenprobleme in ihrem Haushalt durch eine dreiprozentige 
Mehrwertsteuer-Erhöhung, lockern alle den Gürtel der Ansprüche gleich
um zwei Löcher.
Reformen auf dem Arbeitsmarkt wie die Einschränkung des 
Kündigungsschutzes, eine nachhaltige Senkung der Lohnnebenkosten, die
Rente mit 67 oder die Erleichterung von Existenzgründung und 
Unternehmertum durch die Zerschlagung bürokratischer Hemmnisse werden
nicht angepackt. Statt dessen setzt die Bundesregierung ihre 
Wachstumsprognose herauf, wohlwissend, dass eine Steigerung des 
Wachstums hinter dem Komma keinerlei Impulse für den Arbeitsmarkt 
bringen wird. Es herrscht ein in den Zeiten des Wohlstands 
gewachsenes statisches Verhalten vor, als bestünde die alte 
rheinische Republik fort.
Die aus den neuen Ländern stammende Angela Merkel hält still, immer 
noch froh, für ihren im Namen der Reformen geführten 
Bundestagswahlkampf nur mit einer Wahlniederlage, aber nicht mit dem 
Entzug des Kanzleramts bestraft worden zu sein. Sie hat ihre Wähler, 
vor allem aber ihre Nicht-Wähler verstanden: Die Freiheit des 
einzelnen wird nicht als Versprechen, sondern als Bedrohung 
begriffen. Entsprechend orientiert sich das Denken der 
Groß-Koalitionäre permanent auf staatliche Regulierung hinaus - ob 
beim Elterngeld, der "Reichensteuer", dem "Gesundheitssoli" oder 
Volker Kauders Gesundheitsfonds.
Die meisten Handelnden und laut Umfragen auch die meisten der so 
Behandelten sind trotzdem zufrieden. Es wird offenbar so viel über 
Reformen geredet, dass viele glauben, es hätte welche gegeben. Und zu
dieser Botschaft passt das Ritual des 1. Mai dann doch wieder gut.

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