Rheinische Post: Die Macht der Arbeiterklasse
Düsseldorf (ots)
Von Martin Kessler
Die Gewerkschaftsbewegung war neben den Kirchen und dem organisierten Liberalismus einer der Grundpfeiler der westdeutschen Demokratie. Ihre meist besonnene Lohnpolitik hat den Weg zum Wirtschaftswunder der Bundesrepublik bereitet. Gleichzeitig hat sie die Arbeiterschaft mit der sozialen Marktwirtschaft versöhnt. Die Abkehr von revolutionären Trugbildern brachte den Werktätigen einen zuvor nie gekannten Wohlstand. Das ist das historische Verdienst der Gewerkschaftsbewegung. In Zeiten des schier schrankenlosen Individualismus verlieren die Vertreter der Arbeiterklasse an Gewicht. Arbeitnehmer verlassen ihre Organisation, weil sie fragen, was sie für ihren Gewerkschaftsbeitrag bekommen. Hinzu kommt, dass die neuen Jobs in flüchtigen Arbeitsverhältnissen und in der Dienstleistungsbranche entstehen, während die Industriestellen ins billigere Ausland verlagert werden. Sind Gewerkschaften also ein Phänomen der Vergangenheit, eine Bewegung, die sich überholt hat? Man sollte das Totenglöckchen nicht zu früh läuten. Denn die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen wird es so lange geben, so lange sie wirtschaftlich begründet und vernünftig ist. Ein wichtiger Gedanke ist der Versicherungsaspekt. In Zeiten der Unübersichtlichkeit bieten Gewerkschaften dem einzelnen Schutz vor krasser Benachteiligung. Sie schaffen es auch, die Arbeitnehmer schneller an den Früchten des wirtschaftlichen Erfolgs zu beteiligen, als das in einem reinen Marktsystem möglich wäre. Aber Arbeitermacht kann nicht den Lohn bestimmen. Der ist letztlich eine technische Größe, gegeben durch den Kapitaleinsatz, die Knappheit des Arbeitsangebots und den Produktivitätsfortschritt. Andererseits wirken Tarifverträge wie ein Mindeststandard, der keinen durch den Rost fallen lässt. Weil sie von Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelt werden, die sich dem rauen Wind des internationalen Wettbewerbs stellen müssen, sind sie auch effizienter als jeder gesetzliche Mindestlohn. Die Pläne der SPD, einen solchen einzuführen, würden deshalb die Arbeiterbewegung entmündigen. Wollen die Arbeitnehmer und die sie vertretenden Gewerkschaften ihr Gewicht behalten, müssen sie den neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten Rechnung tragen. Sie müssen stärker als in der Vergangenheit sich auf den Wettbewerb einstellen und Platz für flexible Lösungen schaffen. Es gibt dafür Ansätze bei manchen Gewerkschaften. Aber es gibt auch den Traum, das Prinzip der Tariffindung nach außen abzuschotten. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung, die einen Tarifvertrag auf alle überstülpt, oder Tarifbindungsklauseln, die öffentliche Aufträge an Tariftreue binden, gehören dazu. Sie sind wettbewerbsfeindlich. Aber nur eine Gewerkschaftsbewegung, die sich an marktwirtschaftlichen Kriterien orientiert, wird im Zeitalter der Globalisierung überleben.
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