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Tinte oder Tastatur?

Tinte oder Tastatur?
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Stein (ots)

Jedes Jahr am 23. Januar wird weltweit der Internationale Tag der Handschrift gefeiert. Unter der Schirmherrschaft der Writing Instrument Manufacturers Association (WIMA) bemüht sich die Initiative seit 1977, den Einfluss des handschriftlichen Schreibens auf unser Leben hervorzuheben. Auch wenn Computerfans die Vorzüge des Digitalen loben - Neurowissenschaftler warnen: Die Abkehr von der Handschrift könnte die Lese- und Lernfähigkeit beeinträchtigen.

Zweifelsohne haben Sie in den letzten Tagen eine Einkaufsliste notiert, ein Post-It beschrieben, die Hausaufgaben Ihres Kindes korrigiert oder bei einem Meeting schnell ein paar Notizen hingekritzelt. Aber Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal einen längeren Brief per Hand geschrieben?

Eines ist sicher: Die neuen digitalen Möglichkeiten erlauben uns, Texte mit einer derartigen Geschwindigkeit zu produzieren, dass sie die Handschrift mehr und mehr ersetzen. Es spielt doch eigentlich keine Rolle - so sollte man meinen - welches Werkzeug der Mensch zum Schreiben benutzt - Hauptsache die Qualität des Textes stimmt.

Die Experten jedoch sind anderer Meinung, denn Stift und Tastatur aktivieren unterschiedliche neuronale Muster. "Die Handschrift erfordert eine komplexe Gestik, die gleichzeitig sensorische, motorische und kognitive Impulse setzt", erklärt Edouard Gentaz, wissenschaftlicher Leiter der französischen Forschungsorganisation CNRS und Entwicklungspsychologie-Professor an der Genfer Universität. Mit der Tastatur arbeite das Kind nicht in derselben Art und Weise. Statt einen Buchstaben nach seinem visuellen Gedächtnis gemäß seiner feinmotorischen Fähigkeiten zu zeichnen, drückt es eine Taste - ein Bewegungsablauf, der unabhängig vom Buchstaben immer identisch verläuft. Zudem sind die graphischen Möglichkeiten begrenzt - mit dem Computer kann man weder rückwärts schreiben noch Ränder überschreiten, Schriften überlagern oder deformieren, auch kann man das Papier nicht ausschneiden, zerknüllen und zerreißen - kurzum - sich dessen Dreidimensionalität frei bedienen.

Auch mit dem fertigen Text enden die Unterschiede nicht: Der Computer liefert nur das Endresultat, Stift und Papier hingegen spiegeln sichtbar den Arbeitsprozess mit all seinen Phasen wider. "Von Hand Geschriebenes ist gedanklich und inhaltlich besser strukturiert und wird nachweisbar gleichzeitig gelernt, im Gegensatz zu Getipptem. Vor allem müssen die neuen Technologien des Schreibens methodisch richtig platziert und dosiert gelehrt werden. Es bleibt: Schreiben und Zeichnen mit der Hand ist Basiskompetenz für vieles, und entwickelte und gedachte Sprache gelingt vor allem durch die hochkomplexen feinmotorischen Fertigkeiten mit der Hand", sagt Stephanie Ingrid Müller, Kunst- und Medienpädagogin vom Mediastep-Institut in Nürnberg.

Schreiben macht schlau

Die amerikanische Journalistin Anne Trubek beschwört die Vorzüge des Computerschreibens, ja, des "kognitiven Automatismus", der es möglich mache, so schnell wie möglich zu denken, befreit von Schreibzwängen, die uns gerne mal mitten im Entstehungsprozess den Faden verlieren lassen.

Einige Experten der Neurowissenschaftler sind hingegen skeptisch. Sie schätzen, dass die Abkehr von der Handschrift Folgen in Hinblick auf die Leselernfähigkeit haben wird. Marieke Longchamp und Jean-Luc Velay, zwei Neuro-Wissenschaftler des CNRS und der Universität Aix-Marseille, haben in einer Studie mit Drei- bis Fünfjährigen nachgewiesen, dass Kinder, die Buchstaben nachzeichnen, diese besser und schneller wiedererkennen als die Vergleichsgruppe, die beim Erlernen von Buchstaben ausschließlich die Tastatur benutzte. Dasselbe Ergebnis ergab eine Studie mit Erwachsenen, die bengalische oder tamilische Schriftzeichen erlernen sollten. Wissenschaftler Edouard Gentaz spricht von einem "körperlichen Gedächtnis". Die Idee des Sich-Erinnerns durch Bewegung hat im Übrigen auch die Pädagogik von Maria Montessori stark beeinflusst.

Tastatur versus Stift

Manche Wissenschaftler gehen sogar noch einen Schritt weiter. Sie gehen davon aus, dass nicht nur die Lesefähigkeit leidet, sondern auch die Lernfähigkeit. Zwei amerikanische Wissenschaftler, Pam Mueller und Daniel Oppenheimer, untersuchten eine Gruppe von 300 Studenten der Universität Princeton und der Universität von Kalifornien und stellten fest, dass diejenigen Studenten, die handschriftliche Notizen während den Vorlesungen machten, leichter auf komplexe Fragenstellungen zum Stoff antworten konnten als diejenigen, die einen Computer zum Mitschreiben benutzten. Die Wissenschaftler haben darauf eine einfache Antwort: In der manuellen Mitschrift wird der Stoff bereits gedanklich verarbeitet, schließlich muss der Text von Beginn an sinnvoll zusammengefasst werden. Die Tastatur-Benutzer dagegen neigten dazu, viel mitzutippen und wörtliche Transkriptionen abzufassen, was eine reflektierte Kopfarbeit verhindert.

Dennoch sind Wissenschaftler vorsichtig, aus diesen ersten Erkenntnissen allgemeingültige Rückschlüsse zu ziehen: "Es gibt derzeit noch keine Studie, die eindeutig beweist, dass die Benutzung von Stift oder Tastatur unser Textverständnis oder unsere Denkstrukturen verändert", so Edouard Gentaz. Trotz der Omnipräsenz des Computers glaubt der Wissenschaftler jedoch nicht an ein Verschwinden der Handschrift. Er hält die Tastatur des Computers für ein Übergangsphänomen: "Touch-Screen und Stylus werden der Gestik ein Revival bescheren". Das Handgeschriebene und -gezeichnete, so die Wissenschaftler des CNRS, sei im Übrigen gegenwärtiger als vielen bewusst ist. Graphikdesign, Illustrationen und Kalligraphie sind angesagter denn je. Vielleicht liegt das einfach daran, dass das manuell Gefertigte der drögen Tastatur etwas entgegenzusetzen hat. Wie das? Das Manuelle erreicht uns auf emotionaler statt auf sachlicher Ebene: Es kommuniziert mit Charme, Persönlichkeit und beabsichtigter Imperfektion.

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