Lausitzer Rundschau: Noch ein Appell mehr Zur Europarede von Bundespräsident Joachim Gauck
Cottbus (ots)
Europa hat keinen gemeinsamen Gründungsmythos wie die Vereinigten Staaten von Amerika als das Land der Freien. Und auch der Bundespräsident hat am Freitag nicht die neue Erzählung Europas, die so viele in der aktuellen Stimmungskrise des Kontinents vermissen, liefern können. Die gibt es nämlich nicht. Joachim Gauck wollte allerdings wohl, dass diese erste bedeutende Rede seiner Präsidentschaft als große Rede wahrgenommen wird. Dafür freilich war sie nicht mutig genug. Dann hätte er nämlich Klartext reden müssen gegen die, die in der Politik ganz gezielt mit antieuropäischen Ressentiments spielen, auch ganz oben in der CSU und in der FDP. Oder aktuell Silvio Berlusconi, der mit Geldgeschenken und Deutschlandfeindlichkeit gerade Wahlkampf macht. Von wegen Einmischung in die Angelegenheit eines Staates. Der Ausgang der Wahl in Italien kann die Stabilität des gesamten Euro-Raumes wieder gefährden. In einer Wirtschafts- und Währungsunion ist jede Wahl europäische Innenpolitik. Auch die griechische im letzten Frühjahr war es. Ein deutscher Präsident, der Europäer sein will, darf sich da behutsam einmischen. Gerade dann macht er deutlich, dass es inzwischen eine gemeinsame Verantwortung auf dem Kontinent gibt. Gauck hat diese Chance vertan. Und was Großbritannien angeht: Seine als Liebeserklärung an die Briten verpackte Aufforderung an London, die EU nicht zu verlassen, war allzu soft. Ein Hinweis auf die globalen Realitäten, in deren Rahmen England nur ein Inselchen ist, hätte auch nicht geschadet. Ebenso wie der Satz, dass das europäische Sozialstaatsmodell ein gemeinsamer Wert ist, der uns vom Kapitalismus amerikanischer und chinesischer Prägung unterscheidet. So hat das Volk wieder nur einen dieser europäischen Appelle gehört, von denen zwar jedes Wort richtig ist, die aber die Herzen nicht recht rühren. Ja, sagt der Präsident, es gibt eine tiefe Vertrauenskrise, es sind Fehler gemacht worden beim Euro und bei der Erweiterung. Und dann spricht er sich doch wie die meisten Vertreter der politischen Klasse umstandslos für eine weitere Vertiefung der EU aus. Dieser Gedankensprung bleibt für viele Menschen zu abstrakt, zumal Gauck offen lässt, wie diese Vertiefung aussehen soll. Welche Rechte die europäischen und welche die nationalen Institutionen und Parlamente haben sollen und wie es mit den Beitritten weitergeht. Wer um den Brei herumredet, wird keinen Appetit erzeugen, weder so noch so. Der Wunsch des Präsidenten, die Medien sollten mit einem europaweiten gemeinsamen Angebot in die Identitäts- und Begeisterungslücke springen, ist in Reinkultur Europapolitik von oben. Wenn das genug Leute sehen wollten, würde es ein solches Angebot längst geben. Es bleibt dabei: Europa, dieses einzigartige Gebilde zwischen Vielfalt und Gemeinsamkeit, zwischen Bundesstaat und Staatenbund, muss täglich in der Praxis wachsen. Das fängt bei korrekten Lebensmitteln an, geht über die Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit und hört beim stabilen Euro nicht auf. Das muss die Leute überzeugen, sie stolz auf ihren Kontinent werden lassen. Beim Reisen ist das ja schon gelungen, bei der Kultur zumeist auch. Europa braucht Politiker, die bereit sind, diese mühsame Arbeit der Gestaltung eines gemeinsamen Alltags auf sich zu nehmen. Ebenso wie Bürger, die das auf ihren Ebenen tun, in den Schulen, im Sport, mit Partnergemeinden. Das sind die wahren Schöpfer der europäischen Erzählung, die in Wahrheit gerade erst geschrieben wird. Eine Präsidentenrede wie die gestrige kann das nicht ersetzen, sondern nur unterstützen. Das immerhin hat Gaucks Ansprache getan.
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