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Berliner Morgenpost: Demos und Gipfeltreffen: Neue Zeiten, alte Rituale - Kommentar

Berlin (ots)

Sie ziehen heute durch Berlins Mitte, durch
Frankfurt und London. Nächste Woche, zum Nato-Jubiläum, ist dann 
Straßburg dran samt Kehl am Rhein. Protest formiert sich einmal mehr 
gegen das politische Welt-Establishment, Protest, dem seit Jahren die
Immergleichen ein Gesicht geben. Gewerkschaften, Attac-Mitglieder, 
Linke. Routiniert, als gäbe es nichts Neues, Geplänkel im Vorfeld, 
auch die immer gleiche Frage: Bleibt es denn einigermaßen friedlich? 
Wenn nicht, wird man hinterher wieder streiten, ob die Polizei nicht 
vielleicht doch provoziert habe, durch pure Anwesenheit 
beispielsweise. Oder war's doch eher der "schwarze Block"? Man kennt 
das ja inzwischen. Murmeltiertage, hoffentlich bleiben die Köppe 
heil.
Dabei könnte eigentlich einiges anders sein heute als in vielen 
vergangenen Jahren, in denen man mit seinen Demonstrationszügen 
ziemlich weit vorbeilief am Lebensgefühl der Mehrheit, am Mainstream,
wenn man so will. Jetzt, Ende März 2009, gäbe es ja tatsächlich auch 
für viele andere Menschen Grund zum Protest. Die verantwortlichen 
Gipfelakteure, ob G7, G8, G20, bieten 
ausreichend Anlass zu kritischer Nachfrage. Weniger zurückhaltend 
formuliert: Das dramatische Versagen der führenden 
Weltwirtschaftspolitiker, ihre derben Schnitzer beim Umgang mit Wohl 
und Wehe unserer Betriebe, unserer Arbeitsplätze, unserer Ersparnisse
darf durchaus deutlich thematisiert werden. Da wurde ja hinreichend 
sanft und selig gepennt, während das globale Finanzsystem erst 
erodierte und schließlich krachend zusammenbrach.
Gipfeltreffen plätscherten rituell dahin, man gab sich offensichtlich
mehr Mühe, schöne Fotos zu generieren als die durchaus bekannten 
Untiefen der Weltwirtschaft etwas genauer auszuloten. Es gab ja 
Mahner und Warner. Nichts davon zu spüren, damals in den Strandkörben
von Heiligendamm? Beim Bier in der Präsidentensuite? Man könnte schon
ein wenig aus der Fassung geraten, wenn man sich erinnert an diese 
oder jene Szene.
Gemessen an diesem Empörungspotenzial werden die Demonstrationszüge 
von heute absehbar spärlich besetzt sein. Was Gründe hat. Zum einen 
ist mit GeorgeW. Bush natürlich das Mensch gewordene 
Feindbild abhandengekommen und durch einen ziemlich sympathischen 
Kerl ersetzt worden, der auch als Ehrenmitglied von Attac durchginge.
Zum anderen haben Globalisierungskritiker, Ver.di, Linkspartei selbst
dem schwer angeschlagenen Weltwirtschaftssystem keine glaubwürdige, 
Vertrauen schaffende Alternative entgegenzusetzen. Sie haben sich 
seit Jahren in zum Teil ernst zu nehmendem, zum Teil wohlfeilem 
Protest erschöpft, ohne heute dem Alten wahrhaft Neues, Attraktives 
entgegensetzen zu können. Das merken die Menschen, die sich, zum 
Glück, in ihrer Mehrheit nicht mehr überzeugen lassen von der 
Anziehungskraft der gängigen Wolkenkuckucksheime. Sie möchten schon 
genauer wissen, wie sich ihr Lebensstandard halten, vielleicht 
verbessern ließe, gerne auch ohne die schlechteren Seiten des 
Kapitalismus. Aber da kam bisher nicht allzu viel. Das wird, vermuten
wir, auch heute so bleiben.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

Original-Content von: BERLINER MORGENPOST, übermittelt durch news aktuell

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