"Berliner Morgenpost": Das ewige Vermächtnis
Leitartikel von Thorsten Knuf zum 17. Juni 1953
Berlin (ots)
Die deutsche Geschichte ist voll von Ereignissen, die für Schuld und Scheitern stehen. Keine andere Nation hat größere Verbrechen zu verantworten. Keine andere verspielte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert konsequenter die Chancen, die sich ihr boten. Und doch gibt es Ereignisse, die nicht für das Deutschland der Schuld stehen, sondern für das Deutschland der Freiheit und der Demokratie. Die Wiedererlangung der staatlichen Einheit 1990 gehört dazu, die ohne die friedliche Revolution in der DDR und die europäische Integration nicht möglich gewesen wäre. Ein besonderer Moment war zudem die Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949, die unter strenger Beobachtung der Westalliierten stattfand.
Und ja: In diese Reihe gehört ebenso der Volksaufstand in der DDR und Ost-Berlin vor 70 Jahren. Eine Million Menschen forderten damals mit Protesten die SED-Herrschaft heraus. Als die Sowjetunion am 17. Juni 1953 Panzer auffahren ließ, brach der Aufstand zusammen. Am Freitag erinnerten Staat und Politik an die Ereignisse von damals, etwa mit einer Gedenkstunde im Bundestag und einer Veranstaltung am heutigen Sitz des Bundesfinanzministeriums in Berlin. Das ehemalige DDR-Regierungsgebäude war einer der wichtigsten Schauplätze des Aufstands.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte am Freitag im Bundestag, die Ereignisse damals seien "ein Volksbegehren für die Demokratie" gewesen. Er ergänzte: "Es ist eine fadenscheinige Lüge, wenn die Gegner unserer Demokratie, wenn Populisten und Extremisten behaupten, es sei heute 'genau wie damals', genau wie in der Diktatur." Wer so rede, der verhöhne die Opfer des SED-Regimes.
Der Aufstand in der DDR ist einst gescheitert. Die Staatsführung zog die Zügel noch straffer an. Noch mehr Menschen verließen das Land gen Westen, bis acht Jahre später die letzten Schlupflöcher zugemauert wurden. Die Erkenntnis des 17. Juni ist gleichwohl, dass sich der Kampf für Freiheit und Demokratie lohnt. Die DDR-Führung hat sich bis zu ihrem Untergang nie vom Schock des Aufstandes erholt. Nichts fürchtete sie mehr als das eigene Volk.
Der Kampf für Freiheit und Demokratie ist auch nie zu Ende. Beides muss nicht nur errungen, sondern jeden Tag aufs Neue verteidigt werden. Nichts ist selbstverständlich: Autoritäre Staaten destabilisieren systematisch Länder, die sich für die Freiheit entschieden haben. Russlands Angriff auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf die Demokratie und die liberale Weltordnung insgesamt.
Und auch im Innern sitzen die Feinde der Freiheit - auch wenn sie das Gegenteil von sich behaupten. In den USA stehen 2024 wieder Präsidentschaftswahlen an, in Frankreich 2027. Niemand weiß, ob diese beiden Länder danach noch die gleichen sein werden. Falls nicht, droht der Westen zu kollabieren. Und in Deutschland würde derzeit fast jeder Fünfte mit der AfD eine Partei wählen, die beim Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall gilt. Im Osten ist es sogar jeder Vierte. Die Demokratie westlicher Prägung ist in höchster Gefahr.
In der alten Bundesrepublik war der 17. Juni jahrzehntelang der Nationalfeiertag. Er war das, was seit 1990 der 3. Oktober ist: der Tag der Deutschen Einheit. Es ist an der Zeit, das Gedenken an den 17. Juni neu zu beleben - jenseits von Kranzniederlegungen und Festakten. Der Tag könnte einer sein, an dem die demokratische Gesellschaft sich selbst feiert. Eine Mischung aus Ernst und Heiterkeit: Das kann diese Republik doch ganz gut.
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