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Berliner Morgenpost/Der bedrohte Staat/Leitartikel von Politik-Korrespondent Christian Unger

Berlin (ots)

Die Angriffe waren heftig. Einmal attackierten Lina E. und ihre Mittäter einen Kanalarbeiter im linken Leipziger Szeneviertel Connewitz, brachen ihm Jochbein und Schädelknochen. Der Grund: Er trug eine Mütze eines rechtsextremen Modelabels. Die Angreifer trieb der Hass auf Nazis. Lina E. wurde im Mai zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt. Als "Rädelsführerin" einer linksradikalen Schlägertruppe. Wer nach Sachsen blickt, der sieht, wie Extremisten in Deutschland agieren. Und wie sehr die Gefahr droht, dass sich Feinde des Rechtsstaats organisieren - ohne dass es der Staat merkt.

Nicht nur linke Gruppen agieren gezielt mit Gewalt. Rechtsextreme bauen in Ostdeutschland Netzwerke auf, gründen Parteien - und demonstrieren zugleich ihre Macht. Die Szene kauft Restaurants, mischt sich in den örtlichen Fußballverein ein, zeigt sich beim Stadtfest. Und greift ihrerseits Geflüchtete und Linke an. Seit der Wende sind mehr als 200 Menschen aufgrund von rechter Gewalt getötet worden. Und auch im vergangenen Jahr ist die Zahl rechtsextremer Gewalttaten gestiegen. Der Rechtsstaat ist unter Beschuss - von allen Seiten. Nicht nur von rechts, nicht nur von links. Zwei mutmaßlich islamistische Anschläge konnten die Sicherheitsbehörden in den vergangenen Monaten verhindern. Seit Februar 2022 ist eine weitere Gefahr besonders gewachsen: das Risiko durch russische Sabotage, Spionage und Desinformation entlang des Krieges in der Ukraine. Bundesinnenministerin Nancy Faeser spricht von einer "Zeitenwende auch in der inneren Sicherheit". Damit hat sie recht.

Der Verfassungsschutz deckt radikale Netzwerke auf, sammelt mithilfe von "Quellen" Informationen, klärt Bürgerinnen und Bürger über Menschenfänger auf. Und doch bleibt das Gefühl, dass die Sicherheitsbehörden zu oft hinterherrennen. Extremisten organisieren sich lokal und digital. Bis der Staat verfassungsfeindliche Umtriebe erkennt, sind ebenjene vor Ort längst etabliert.

Für Faesers "Zeitenwende" braucht es mehr als einen starken Nachrichtendienst. Mehr als Aufstockung bei Polizei und Verfassungsschutz, mehr als Bodycams und Abhörtechnik. Zu simpel sind oft die Antworten auf Bedrohungen des Rechtsstaats: mehr Härte, höhere Strafen, mehr Streifenwagen in Innenstädten.

Eine wehrhafte Demokratie braucht mehr. Sie muss da stark sein, wo Extremisten agieren. In der Schule fängt es an, im Sportverein und in Jugendzentren geht es weiter, ebenso in Stadtparlamenten. Der Kampf gegen Extremisten wird nicht nur im Bundesinnenministerium in Berlin entschieden - er wird in den Kommunen und Nachbarschaften entschieden. Nicht nur Geheimdienst-Chefs sind die Hüter der Verfassung, sondern auch Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Bürgermeister und Kommunalpolitikerinnen.

Diese Menschen, die täglich mit Hass vor allem von Rassisten und mit Verschwörungsideologien konfrontiert sind, brauchen unsere Hilfe: Geld für Mitarbeiter in den Vereinen, Angebote der Fortbildung, um auf Extremismus klug reagieren zu können. Aussteigerprogramme als Ausweg aus der Szene. Das alles kostet. 100 Milliarden Euro will die Regierung von Kanzler Scholz in die Bundeswehr investieren. Ein "Sondervermögen" für Waffen, Flugzeuge, Helme. Das ist richtig in der aktuellen Bedrohungslage durch den russischen Angriffskrieg. Doch eine "Zeitenwende" braucht auch Schutz im Inneren - und ein Sondervermögen gegen Verfassungsfeinde. Es zahlt sich am Ende aus.

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