Dialog statt Hass
Die Gesellschaft muss das Trauma durch die Corona-Pandemie aufarbeiten
Leitartikel von Anne-Kathrin Neuberg-Vural
Berlin (ots)
Die Corona-Zahlen steigen wieder - die Arztbesuche aufgrund einer Infektion, die Viruslast im Abwasser. Klar, wir bewegen uns weiter auf niedrigem Niveau. Dennoch ist von einer Dunkelziffer auszugehen. Viele Infektionen bleiben unentdeckt, die Gründe für den eigenen Husten und Schnupfen unerforscht. Das ist menschlich gut nachvollziehbar. Viele wollen sich nicht mehr mit Corona auseinandersetzen. Sie haben mit der Pandemie mental abgeschlossen.
Solange es keinen Kontakt mit vulnerablen Gruppen gibt oder die Gefahr besteht, zum Superspreader zu werden, ist das legitim. Schließlich durchleben die meisten Personen, die mit einer der Virus-Mutationen in Kontakt kommen, mittlerweile nur noch leichte Verläufe. Die Pandemie scheint weit weg - und mit ihr das Ohnmachtsgefühl, die Sorge um Angehörige, das Bedürfnis zu begreifen, was Corona mit uns und der Welt macht.
Geblieben sind die Nachwirkungen. Untersuchungen zeigen, was viele in ihrem Umfeld sehen und spüren: Erwachsene, aber insbesondere auch Kinder und Jugendliche sind durch die Pandemie bis heute psychisch belastet: Depressionen, Angstzustände, Essstörungen. Themen wie Klimawandel oder Krieg belasten zusätzlich. Das macht betroffen - auch, dass es dafür keine schnellen Hilfestellungen oder gar Lösungen gibt.
Hinzu kommen Frust und Wut, entstanden aus der Hilflosigkeit und dem Bedürfnis nach Normalität. Viele Menschen haben das Gefühl, ihr Leben sei durch die Pandemie aus den Fugen geraten. Sie sind noch immer erschöpft, sehnen sich nach Kontrolle. Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann zog mit Blick auf unsere Gesellschaft gar den Vergleich zur posttraumatischen Belastungsstörung.
Zu gerne werden in solchen Situationen Schuldige gesucht - Menschen, die man für die eigenen negativen Gefühle verantwortlich machen kann. Ein Krankheitserreger taugt dafür nicht, dafür aber Politiker oder auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Im Mai zeigte eine repräsentative Befragung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), dass 45 Prozent der Forschenden bereits Wissenschaftsfeindlichkeit erlebt haben. Das Spektrum reicht von herablassenden Äußerungen bis hin zu Morddrohungen. Ein großes Problem, viele Forscher werden leiser. Um in der Öffentlichkeit zu bestehen, braucht es vermehrt ein dickes Fell statt tiefer Expertise. Erschwerend kommt hinzu: Zitate von Wissenschaftlern werden aus dem Kontext gerissen, verbreiten sich so mit falscher Botschaft. Fakten werden zu möglichen Theorien, die vermeintlich anders gedeutet werden können.
Populisten in Parteien wie AfD und BSW nutzen solche Halbwahrheiten, verdrehte Tatsachen, aber auch tatsächlich unterlaufene Fehler zur Stimmungsmache. Sachliche Diskussionen werden unmöglich. Das, was während der Pandemie erfolgreich verhindert wurde, wird nicht gewürdigt. Dieses Präventionsparadox spielt ihnen zudem in die Karten.
Was bleibt, sind die Probleme, die eine Pandemie zwangsläufig mit sich bringt. Diese aufzuarbeiten wird eine enorme Aufgabe, der sich die Politik, aber auch wir als Gesellschaft dringend stellen müssen. Wir müssen Forscherinnen und Forscher vor Anfeindungen schützen, ihre Expertise einfordern. Wir dürfen uns nicht weiter voneinander entfernen. Es braucht wieder mehr Grau statt Schwarz-Weiß, lösungsorientierten Dialog, den Blick in die Zukunft und den Willen, aus Fehlern zu lernen, statt uns an ihnen aufzureiben.
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