Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Tarifkonflikt im Einzelhandel: Wenn Streik zum Armutszeugnis wird - Leitartikel von Ulrich Horn
Essen (ots)
Die Wirtschaft brummt zwar wieder. Dennoch sind die harten Zeiten für die Gewerkschaften noch längst nicht vorbei. Nach wie vor leiden sie unter Problemen, die sie zu lange verdrängt und vor sich hergeschoben haben.
Ein Teil dieser Schwierigkeiten ergibt sich aus der nach wie vor hohen Arbeitslosigkeit. Sie lässt wenig Spielraum für eine Tarifpolitik, die ihren Erfolg an hohen Lohnabschlüssen bemisst. In den vergangenen Jahren waren die Gewerkschaften vor allem damit beschäftigt, den Stellenabbau zu begrenzen. Ein Erfolg war es oft schon, wenn ein Teil der Stellen, die auf der Kippe standen, gerettet werden konnte. Die Kehrseite der Medaille: Wer Lohnverzicht statt Lohnerhöhung, längere statt kürzere Arbeitszeit vertreten muss, kann kaum mit Jubel und Zulauf rechnen. Kein Wunder also, dass die einst so machtvolle Gewerkschaftsbewegung viel Anziehungskraft verloren hat.
Besonders krass betroffen ist Verdi. Beim Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft hätte sie der große Profiteur unter den Gewerkschaften sein können. Stattdessen stellt sie heute traurig fest, dass sie im Einzelhandel, einem Dienstleistungsschwerpunkt, kaum noch streikfähig ist. Ein Armutszeugnis. Und kein Einzelfall: In manch anderem ihrer zahlreichen Organisationsbereiche sieht es kaum besser aus. Auch dem Stellenabbau im öffentlichen Dienst hat Verdi nur wenig entgegenzusetzen. Die Welle der Privatisierungen setzt ihr ebenfalls zu.
Die Verhältnisse, die Verdi in vielen Betrieben zu Recht beklagt, hat sie zwar nicht selbst geschaffen. Dass die Gewerkschaft nicht die Kraft aufbringt, sich erfolgreich gegen diese Entwicklungen zu stemmen, muss sie sich jedoch zum großen Teil zurechnen lassen. Seit Jahren lebt sie über ihre Verhältnisse. Ihre Organisation ist zu groß und zu teuer. Die vielen Bezirks- und Bereichsvorstände konkurrieren miteinander und blockieren sich nicht selten. Konzepte, den Mitgliederschwund zu bremsen, tragen bisher kaum Früchte. Eine schlagkräftige Organisation sieht anders aus.
Verdis Schwäche trifft auch die Beschäftigten im Einzelhandel, die sich vernünftige Arbeitsbedingungen und Löhne wünschen. Den meisten dürfte klar sein, dass die Bäume in ihrer Branche nicht in den Himmel wachsen. Und die Arbeitgeber? Sie sollten nicht übersehen: Viele Kunden erwarten qualifizierte Beratung. Sie hat ihren Preis. Leider hat der Kunde heute schon oft den Eindruck, dass sein Kaufhaus immer mehr einem Selbstbedienungsladen gleicht.
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