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WAZ: SPD-Chef kontra SPD-Minister: Rolle beckwärts - Leitartikel von Ulrich Reitz
Essen (ots)
Franz Müntefering hält den Vorstoß Kurt Becks, das Arbeitslosengeld länger zu zahlen, für "inhaltlich und strategisch" verfehlt. Weshalb?
Als die SPD noch mit sich im Einklang war, vor der Agenda 2010 mithin, ging es zwar der Partei gut, dafür aber der Realität schlecht. Noch nie waren so viele ältere Menschen arbeitslos, noch nie der Arbeitslosenbeitrag so hoch, noch nie die Versicherung so pleite. Und noch nie war es für Firmenchefs so leicht, ihren Jugendwahn auf Staats- wie Beitragszahlerkosten auszuleben und schon 50-Jährige nach Hause zu schicken. Um zu vermeiden, dass noch einmal eine fröhliche SPD von einer traurigen Wirklichkeit eingeholt wird, ist Müntefering inhaltlich gegen Beck.
Müntefering hat einen autobiografischen Grund: Schmerzhaft musste er lernen, dass Gerechtigkeit und Gerechtigkeitsempfinden Gegenwelten sein können. Ist es sozialer, Arbeitslose zu entlasten, Jobinhaber (durch geringere Arbeitslosenbeiträge) aber nicht? Ist es sozial (oder: generationengerecht), die Rente mit 67 wieder aufzuweichen, wo doch die größten Renten-Einbußen auf jene warten, die jetzt in ihren Beruf einsteigen? Ist es sozial, Leiharbeit stärker zu belasten, wenn dadurch zwar für dieselbe Arbeit dasselbe bezahlt wird, aber Jobs verloren gehen? Die Maßnahmen der Agenda 2010 mögen, niemand weiß das so wie Müntefering, zwar als ungerecht empfunden werden, aber was wäre die Alternative gewesen? Ein Gerechtigkeitslücke ist ein Gefühl, eine Finanzierungslücke ein Faktum.
Strategisch ist Müntefering gegen Beck, weil er es für gefährlich hält, der Linkspartei hinterherzulaufen. Weil er weiß, dass Oskar Lafontaine den Überbietungswettlauf um den sorglosesten Geldverteiler der Republik stets gewinnen wird. Lafontaine darf ungestraft mit einem Generalstreik gegen die Rente mit 67 liebäugeln, kein SPD-Vorsitzender dürfte so staatszerstörerisch denken. Deshalb ätzt Müntefering gegen Beck auf wirklich einmalige Weise: "Irgendwann werden wir uns alle mit der PDS treffen, gemeinsam alte Lieder singen und sagen, so, jetzt ist alles wieder in Ordnung."
Nicht einmal die Gewerkschaften wird Beck zufrieden stellen. Von Verdi wurde er noch vor wenigen Tagen ausgebuht, als er sich grundsätzlich zur Agenda bekannte. Müntefering, aus dem man keinen Helden machen muss, hat also gute Gründe für sein Nein. Aber er wird verlieren und vielleicht gehen. So wird es am Ende an der Realität sein, sich nach der SPD zu richten. Ob sie das schon weiß, die Wirklichkeit?
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