Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Es geht nicht nur ums ALG I Becks Wende - Leitartikel von Ulrich Reitz
Essen (ots)
Für seine ganz persönliche Wende hat Kurt Beck weniger Zeit gebraucht als ein Jahr. Zur Erinnerung: Der heutige SPD-Chef gehörte zu den loyalen Unterstützern von Gerhard Schröders Agenda-Politik; und zwar ohne Ausnahme, auch nicht beim Bezug des Arbeitslosengeldes. Die sozialliberale Koalition, die Beck als Regierungschef in Rheinland-Pfalz erfolgreich führt, empfahl er in seinen ersten Berliner Tagen auch als Modell für die Bundespolitik. Dies auch deshalb, weil die Kombination aus wirtschaftspolitischem Augenmaß und gesellschaftspolitischer Verantwortung ihm als angemessenes Rezept auch für die Deutschland AG erschien. Schließlich lieh er sich seinen neuen Slogan auch noch ausgerechnet bei Helmut Kohl: Leistung muss sich wieder lohnen. Wie gesagt - alles noch nicht lange her.
Darum geht es beim Streit um das Arbeitslosengeld mit Müntefering zwar auch um die Macht, aber eben nicht nur. Viel durchschlagender als diese Einzelfrage ist der angepeilte Richtungswechsel für die SPD. Verabschiedet hat sich Beck von Schröders "Neuer Mitte". Dies ist keine Kleinigkeit. Die Neue Mitte, mitersonnen vom britischen Historiker Anthony Giddens, befördert von Tony Blairs engstem Vertrauten Gordon Brown, gelebt vom amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, Vorbild für Schröder und die Seinen, war der Versuch, eine linke Volkspartei neu zu definieren. Und zwar gerade an ihrem empfindlichsten Punkt: Soziale Gerechtigkeit sollte fortan nicht mehr in erster Linie abhängig sein von der Höhe der Sozialtransfers, sondern von den Chancen auf Teilhabe. Den Menschen zu Arbeit zu verhelfen, statt sie in Arbeitslosigkeit ruhig zu stellen, das war die Idee, von der sich auch ein Franz Müntefering erst überzeugen lassen musste. Der letzte SPD-Vorsitzende, der diese Idee des "vorsorgenden Sozialstaats" verfochten hat, war Matthias Platzeck.
Bei Beck nun ist die Mitte nicht mehr neu, sondern "solidarisch", ein ganz anderer Akzent, gemünzt auf die Empfänger staatlicher Transfers und nicht auf jene, die davon unabhängig sein wollen. Dass Beck das Bekenntnis zum Demokratischen Sozialismus dann wieder ins SPD-Programm schreiben ließ, rundet das Bild nur ab.
Beck wird es nicht beim Arbeitslosengeld belassen. Er wird sich weiter treiben lassen, von Lafontaine wie von Rüttgers, weil es nicht nur in der SPD, sondern im gesamten Volk den Wunsch nach staatlich garantierter Sicherheit gibt. Aber was ist die Aufgabe verantwortungsvoller Politik: Hinterherlaufen oder führen und mitnehmen?
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