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WAZ: Warum Geschichte fasziniert - Die Lust auf die Vergangenheit. Leitartikel von Rolf Potthoff
Essen (ots)
Was ist da geschehen? Ist Hitler tatsächlich knapp seiner Ermordung entgangen, weil ausgerechnet sein Todfeind Stalin, Diktator mit dem Blut von Millionen an den Händen wie auch er, im letzten Moment den Aktionen Einhalt gebot? Eine spannende Frage. Gibt es noch mehr Rätselhaftes, noch mehr Mysterien aus jenem Krieg, der auch fast sieben Jahrzehnte danach noch immer die Menschen bewegt und Debatten anregt?
Das Interesse an historischen Ereignissen, an der jüngeren Zeitgeschichte zumal, ist ein Massenphänomen. Erst recht in dieser Nation, die ihren Neuanfang überhaupt erst der Befreiung aus ihrer dunkelsten Zeit verdankt. Gerade das schärfte offenbar das Bewusstsein, dass Historie mehr ist als der vermeintlich "trockene Stoff", wie so mancher die Geschichtsschulstunden empfand.
Aber was fasziniert an Geschichte? Was treibt die Zuschauerquoten und Auflagen hoch, wenn es wie beim TV-Star Guido Knopp um SS oder Bombenkrieg geht, beim Literaturnobelpreisträger Günter Grass um Flucht- und Vertreibungsschicksale oder wenn x Dokumentationen die Rätsel der Pyramiden, den Untergang Roms oder das Kreuzrittertum im Morgenland behandeln?
Das Interesse an Geschichte ist nicht eindimensional, da greift ein Bündel von Faktoren ineinander. Etwa der Spaß am Spekulieren: Was wäre gewesen, wenn . . . Etwa die pure Lust am großen Abenteuer, und historische Abenteuer sind nicht romanhaft erfunden, sie sind real. Auch treibt der Wunsch an, mehr und Tieferreichendes über die Welt zu erfahren, in der man sich bewegt - und allem Kulturpessimismus zum Trotz: das Bildungsbürgertum existiert noch, es lebt.
Es klingt paradox, doch ist durchaus plausibel, dass sich das Interesse an der Vergangenheit zukunftsgewandt orientiert. Diese uralte Frage, was und wie die Politik, Wissenschaft und Gegenwartsgesellschaft aus der Geschichte lernen können, vor allem aus ihren Versäumnissen und Fehlern - die Frage bewegt. Erst recht kann Geschichte identitätsstiftend wirken, sie lässt Menschen sich erfahren als zugehörig zu Heimat, Nation oder Religion. Sie bietet also politische und ethische Orientierung, wenn man sie zur eigenen Standortbestimmung nutzt.
Was aber Hitler, den Krieg und die Folgen betrifft, ist das Interesse unübertroffen. Denn das ist die Epoche, in der Geschichte mit dem Schicksal der Familie verschmilzt. Noch vielköpfig sind die Generationen, die Leid, Schmerz und Verlust durch den NS-Krieg erfuhren. Da mag Geschichte Hilfe zur privaten Vergangenheitsaufarbeitung leisten.
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