Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Wahlkampfbühne Bundesrat. Kommentar von Christian Kerl
Essen (ots)
Ein bitterer Moment für die Koalition, eine kleine Zäsur in der Politik: Mit ihrem Beschluss für die Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro hat die neue rot-rot-grüne Mehrheit im Bundesrat unverzüglich ihre Ankündigung wahr gemacht, die Regierung mit Gesetzesinitiativen unter Druck zu setzen. Das erste Exempel ist gut gewählt, auch wenn alle Beteiligten wissen, dass Schwarz-Gelb im Bundestag den Mindestlohn stoppen wird. Die Union wird von dem Vorstoß kalt erwischt - verzweifelt versucht sie, vor der Bundestagswahl einen "Mindestlohn light" mit der FDP auszuhandeln, um Rot-Grün ein Thema abzujagen. Doch mehr als Nebelkerzen sind der Koalition bisher nicht gelungen. Der Vorwurf, Rot-Grün betreibe da eine politische Schau, läuft ins Leere. Aber: Es ist nur ein schmaler Grat zwischen Gestaltungsanspruch und Krawall. Vieles deutet darauf hin, dass die neue Ländermehrheit doch auf den billigen Effekt setzen und den Bundesrat als Wahlkampf-Bühne missbrauchen wird. Das avisierte Gesetz zur Abschaffung des Betreuungsgeldes etwa hätte wenig mit gestaltender Politik, aber viel mit Klamauk zu tun: SPD und Grüne wollen bloß die FDP vorführen, die dann im Bundestag aus Koalitionstreue erneut für die ungeliebte Familienleistung stimmen muss. Für solche Spielchen ist die Länderkammer eigentlich nicht da. Allerdings werden sie auch nicht ewig dauern. Die eigentliche Bedeutung der rot-grünen Mehrheit wird erst nach der Bundestagswahl sichtbar werden: Bliebe die schwarz-gelbe Koalition an der Macht, hätte sie bei ihrer neuen Agenda mit anhaltendem Widerstand des Bundesrats zu kämpfen - so wie einst Rot-Grün bis 2005. Der verantwortungsvolle Umgang mit dieser Gegenmacht wäre eine Herausforderung für sich. Aber auch eine Große Koalition würde mangels Länder-Mehrheit unter erschwerten Bedingungen starten. Eine rot-grüne Regierung indes könnte komfortabel durchregieren - wohl erst 2016 wäre die Mehrheit im Bundesrat wieder in Gefahr. Das Problem wäre ein anderes: Ein Kanzler Steinbrück würde zügig mit SPD-Länderfürsten wie Kraft, Weil oder Scholz aneinander geraten.
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