Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Franzosen stimmen über EU-Verfassung ab: Wenig Begeisterung - Leitartikel von Tobias Blasius
Essen (ots)
Noch bevor die französische Volksabstimmung über die EU-Verfassung ausgezählt war, musste sich das organisierte Europa bereits eine schmähliche Niederlage eingestehen. Es ist bislang erkennbar nicht gelungen, mit dem ersten Grundgesetz für den Kontinent die EU wirklich in die Herzen der Bürger zu tragen. Ein gutes halbes Jahr nach der feierlichen Unterzeichnung des Verfassungsvertrages auf dem Kapitolhügel in Rom dominieren Skepsis und Desinteresse die Gemütslage bei vielen der 450 Millionen EU- Bürger. Wer dennoch für Europa stimmt, tut es aus einem freudlosen Pflichtgefühl heraus. Von Verfassungspatriotismus keine Spur. Das Grundgesetz will die EU einfacher, verständlicher und demokratischer machen. Mehr noch: Das Brüsseler Europa der Juristen und Paragrafen soll endlich eine Seele bekommen. Ein Rechtstext allein kann einem solch gewaltigen Anspruch nicht gerecht werden. Schon gar kein internationales Kompromisswerk, das so dick ist wie ein Telefonbuch. Dazu braucht es die Übersetzungsarbeit der politischen Klasse in allen 25 Mitgliedsstaaten. Tag für Tag muss in den Hauptstädten von Helsinki bis Athen erklärt werden, warum es zur europäischen Integration als Friedens- und Freiheitsmodell keine vernünftige Alternative gibt. An diese gemeinsame Basis darf man sich nicht nur pünktlich zu Europawahlen und Verfassungsreferenden erinnern. Solange der EU- Gesetzgebungsbetrieb ein steriles Eigenleben führt und die nationalen Regierungschefs sich bloß dann in die Brust werfen, wenn es Geld und Macht zu verteilen gibt oder die in Brüssel einen dankbaren Sündenbock für eigene Versäumnisse abgeben, kann Europa selbst mit der besten Verfassung keine Anziehungskraft entfalten. Bürgerbegeisterung lässt sich nicht anknipsen, wenn es politisch gerade opportun erscheint.
Rückfragen bitte an:
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Telefon: (0201) 804-0
Email: zentralredaktion@waz.de
Original-Content von: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, übermittelt durch news aktuell