Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Kindernot wird ignoriert: Wo genaues Hinsehen einfach stört - Leitartikel von Hendrik Groth
Essen (ots)
Das Aufmacherbild der heutigen Seite Eins macht wütend. Ein kleiner Junge sitzt in einer Koranschule, gefesselt mit einer Eisenkette. Automatisch beginnt der Betrachter das Bild zu interpretieren. Das Unrecht schaut uns mit Kinderaugen an. Schnell sind Schuldige gefunden. Sind die Eltern verantwortlich oder etwa die islamischen Geistlichen? Ist das Bild ein Beweis für unmenschlichen Fanatismus oder für Armut, die zu brutaler Misshandlung führt?
In der globalen Mediengesellschaft ist dennoch nicht das bedrückende Fotodokument des Reporters das Thema, sondern der Umstand, dass der mit dem prestigeträchtigen World Press Photo Award ausgezeichnete G.M.B. Akash wegen dieser Aufnahme von Islamisten mit dem Tode bedroht wird. Akash lebt jetzt in Deutschland, das Schicksal des Kindes wird zur Kenntnis genommen und dann weitgehend ignoriert.
In den westlichen Industriegesellschaften wird nur eine selektive Wahrheit akzeptiert, die die Probleme der Dritten Welt definitiv ignoriert. Unsere Kinder spielen mit Leder-Fußbällen, die Kinder in Pakistan zusammengenäht haben. Unsere Kinder spielen dabei in schicken Trikots, die irgendwo in Asien im Akkord von Zehnjährigen produziert werden und nach dem Abpfiff futtern unsere Kinder mit Begeisterung eine Tafel Schokolade, deren Kakaobohnen von versklavten Jungen und Mädchen gepflückt worden sind, die nicht wissen, was Schokolade überhaupt ist.
Ziemlich viel Tobak finden Sie? Alles ein wenig übertrieben? Wir haben schließlich auch unsere Probleme? Hier ein paar Zahlen. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass in Westafrika zwischen 285 000 bis über 600 000 Kinder in weitgehend unzumutbaren Arbeitsbedingungen auf Kakao-Farmen arbeiten. Keine Schule, wenig Essen und mindestens zwölf Stunden schuften. Hier bekommt das Wort Ausbeutung wieder eine Bedeutung. Es ist die pure Not der Westafrikaner, die sie dazu treibt. Viele Familien haben nur eine Einkommensquelle und die heißt Kakao. Kinderhilfsorganisationen gehen darüber hinaus davon aus, dass 10 000 bis 20 000 Kinder vor allem in der Elfenbeinküste von Händlern an skrupellose Plantagenbesitzer verkauft worden sind.
Das zu ändern oder zu bekämpfen, ist die Aufgabe von Regierungen. Selbst wenn politischer Mut dazu führen sollte, dass die Probleme angepackt würden, das Elend bleibt die kommenden Jahrzehnte. Über elf Milliarden Euro setzt die Süßwarenindustrie um. Fair gehandelte Schokolade macht dabei gerade einmal 20 Millionen Euro aus.
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