Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Der Uni-Klinik-Skandal: Medizin und Moral - Leitartikel von Tobias Blasius
Essen (ots)
Leute, die Professor Christoph-Erich Broelsch kennen, beschreiben ihn als gläubigen Menschen. Sozialisiert in einem Pastorenhaushalt, habe der Leiter der Chirurgie am Essener Uniklinikum sein berufliches Selbstverständnis stets demonstrativ über das Christentum definiert. Auch jetzt, in seiner vielleicht schwersten Ansehenskrise, verteidigt sich der renommierte Chefarzt mit einer religiösen Selbstauskunft: "Als Christ steht für mich die Würde und der Schutz des Lebens in der Transplantationsmedizin an oberster Stelle." Wie passt dieses Bekenntnis zu den Vorwürfen, Broelsch habe gegen Spenden beschleunigt operiert und Organe an den gesetzlichen Bestimmungen vorbei verpflanzt? Wie ist es um das Berufsethos eines Mannes bestellt, der sich täglich in der Grenzregion zwischen Leben und Tod bewegt? Welche ethischen Grundsätze leiten jemanden, den offenbar weder plumpe Geldgier treibt noch kriminelle Energie im herkömmlichen Sinne?
Professor Broelsch gilt als Star der Branche. Wenn es nicht so abgedroschen wäre, dürfte man ihn einen "Halbgott in Weiß" nennen. Zupackend, weltgewandt, eine Kapazität im Arztkittel mit Manschettenknöpfen. Die Eitelkeit, eine kraftvolle menschliche Triebfeder, mag zu manchem Risiko verleiten. Doch was Broelsch nun vorgeworfen wird, könnte tiefer wurzeln. Immer mal wieder hat der 62-Jährige erkennen lassen, dass die strengen deutschen Transplantationsgesetze sein Verständnis von medizinischer Leistung einengen. Der Mangel an Organen, die langen Wartezeiten für Patienten, der vorsichtige Umgang mit Lebendspenden - ein unerträglicher Zustand für einen wie Broelsch, der helfen will und nicht hoffen, der in den USA "Anreizsysteme" in der Organspende kennenlernte. In dieser Logik hätte er die Ökonomisierung des Gesundheitssektors hin zur "Zwei-Klassen-Medizin" konsequent fortgeführt.
Doch Broelsch, der Bungeespringen für gefährlicher hält als eine Lebendspende, kann für den Operationssaal keine eigenen moralischen Maßstäbe reklamieren. Selbst wenn es am Chirurgentisch um Leben und Tod geht, ist nicht alles medizinisch Denkbare auch moralisch machbar. Wenn das Vermögen eines Patienten am Ende über seine Gesundheitsprognose entscheidet, verschieben sich ethische Grenzen auf gefährliche Weise. Gewiss gibt es längst eine Kluft zwischen Privat- und Kassenpatienten. Doch im schicksalhaften Kampf um Organtransplantationen ist dem Gesetzgeber jedes Leben gleich viel wert. Hier bei allen Schwierigkeiten so etwas wie Verteilungsgerechtigkeit zu wahren, ist ein Gebot christlicher Nächstenliebe.
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