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WAZ: Über die Macht der Bilder: Merkel auf dem Gipfel - Leitartikel von Ulrich Reitz
Essen (ots)
Aus der Kanzlerinnen-Perspektive ist so ein Gipfel eine tolle Sache. Reihenweise Staatsleute der Luxusklasse kommen wichtig angeflogen, schreiten bedeutsam eine Gangway herab, begeben sich in Hubschrauber, um vor allem sie zu erreichen, schütteln ihr die huldvolle Hand und sehen dabei weltgewichtig in unzählige Kameras. Die tägliche Medienschlacht um die Hoheit am Bild, eine hochpolitische Angelegenheit, ist in diesen Tagen permanenter Ausnahmesituation entschieden: Im Beliebtheitsranking der Gipfel-Paparazzi liegt die deutsche Kanzlerin weit vorn. (Klammern wir für einen Moment die handgreiflichen Schlachtenszenen aus; sie haben auf die Bewertung der Kanzlerin keinen Einfluss.)
Und auch die Dramaturgie spielt mit, beziehungsweise es gibt genug Interessierte, die für die hilfreiche Spannung sorgen: etwa für einen Klima-Showdown. Deutsche Kanzlerin ringt mit dem amerikanischen Präsidenten um die ökologische Rettung der Erde. Auf so etwas muss man sonst als Normal-Regierungschef lange warten. Oder die Gastgeber-Rolle, bei der selbst noch die Kulisse für Bedeutungssteigerung sorgt: Amerikanischer Präsident ringt mit russischem Präsidenten, und irgendwie geht es mindestens um den Weltfrieden. Nicht einmal ganz entfernt hat das Gesamtszenario irgendwie was von Star Wars, nur dass nicht so ganz klar ist, wer gut ist und wer böse. Für derartig einfache Antworten ist die Welt dann doch zu komplex.
Die anderen, über die man bei dieser Gelegenheit öffentlich redet oder die man gar im Fernsehen sieht, heißen Sarkozy, Abe, Prodi. Oder Bono. Will sagen: Selbst die zweite Reihe glänzt immer noch so wie die Kronleuchter beim Wiener Opernball. Jedenfalls heißen die Darsteller ebenso definitiv wie ausnahmsweise mal nicht: Kurt Beck, Oskar Lafontaine oder Guido Westerwelle. Eine politische Auseinandersetzung mit jenen Leuten, die für das weitere Schicksal der Kanzlerin mitentscheidend sind, findet in und um Heiligendamm nicht statt. Auch darum ist der Gipfel eine Ausnahme, für allgemein (Innen)politik-Gestresste allerdings eine wohltuende.
Stellt sie sich nicht blöd an, kann Merkel nicht einmal verlieren. Gewinnt Bush die Klimabalgerei, hat Merkel zwar verloren, aber im Dienst der guten Sache. Das Mitleid des Volkes wäre der Frau so gut wie gewiss. Am Freitag, 15 Uhr, ist alles vorbei. Der Vorhang fällt vor der Gipfelkanzlerin. Der deutschen Repräsentantin bleibt die Hoffnung auf die Haltbarkeit wohlwollender patriotischer Erinnerung. Als Naturwissenschaftlerin weiß sie: Nichts hält ewig.
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