Westfalenpost: Syriens Tote und das Versagen des Westens Der Zeigefinger steht uns nicht
Hagen (ots)
Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären Präsident in einem Land, das keine Zivilgesellschaft kennt, sondern nur Volksstämme, religiöse Gruppen, Stadtgesellschaften und Clans zwischen Euphrat und Mittelmeer. Ein Sammelsurium an Minderheiten - von uralten christlichen Kirchen bis zu islamischen Sekten - lebt in diesem Land, dessen Grenzen willkürlich gezogen wurden. Ein solches Land würden wir für unregierbar halten. Syrien ist aber über mehr als vier Jahrzehnte stabil regiert worden, auch wenn Stabilität einen höchst zynischen Unterton hat. Denn eine alte Regel des Orients hat hier sehr lange funktioniert: Man lasse eine kleine Minderheit über die Mehrheit herrschen. Die Minderheit wird sich mit der Mehrheit nicht ernsthaft anlegen. Deswegen ging das mit der alawitischen Familie Assad und ihrem säkularen Regime so lange gut.</p><p>Der Feind Israel hielt die Syrer zusammen, und ein beachtlicher Wohlstand die Bevölkerung ruhig. Die Boutiquen von Damaskus liefen zeitweise denen von Beirut den Rang ab. Der Westen schaute dem mit Wohlgefallen zu. Das syrische Regime war verlässlich gegen die islamistischen Eiferer in anderen Ländern. Es war bei aller Aggressivität gegen Israel dennoch berechenbar und anders als der irrlichternde Iran nicht der Abenteuerlust verdächtig. Und es ließ den Christen einen bescheidenen, aber gesicherten Spielraum. Also schaute niemand genau hin, als Baschar nach dem Tod seines Vaters zunächst politische Lockerung versprach und im Stile orientalischer Herrscher die alten Garden durch treue Paladine ersetzte.</p><p>Schon seit Monaten fließt Blut in Syrien, aber die Vorgänge in Ägypten schienen wichtiger zu sein. Jetzt zeigt der Westen empört auf die bösen Buben Russland und China. Plötzlich entdecken wir syrische Agenten in Berlin. Das ist alles offenkundig heuchlerisch und von peinlicher Doppelmoral. Der Zeigefinger steht uns nicht, nachdem wir 40 Jahre gute Miene zum bösen Spiel gemacht haben. Die syrischen Oppositionellen, die seit Jahrzehnten unter uns leben und mit Mühe und Not ihr Asylverfahren überstanden, kennen die Wahrheit.
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