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NRZ: Genugtuung für Erdogan - ein Kommentar von JAN JESSEN
Essen (ots)
Aus dem bemerkenswerten Auftritt der Kanzlerin in der Böhmermann-Affäre lassen sich zwei positive Aspekte herausdestillieren: Erstens wird der unsägliche Strafrechtsparagraf 103 alsbald abgeschafft. Staatsoberhäupter sind künftig nicht anders gegen Beleidigungen geschützt als der normale Bürger. Das ist gut so. Zumal dieser Paragraf es erzwungen hat, dass sich eine Bundesregierung mit den pubertär anmutenden Ausfällen eines Fernsehmoderators beschäftigen und dazu Stellung nehmen muss. Zweitens hat Merkel die Gelegenheit genutzt, ungewöhnlich deutlich die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei anzumahnen. Aber: Dass Merkel, dass die Bundesregierung das Strafverfahren gegen den Moderator zugelassen hat, ist ein Fehler. Es ist ja gut, dass sich jetzt die Justiz mit der Frage beschäftigen wird, ob das in der Tat beleidigende "Gedicht" Böhmermanns ohne Kontext gesehen und damit geahndet werden kann, damit diese leidige Affäre endlich ein Ende findet. Aber das hätte auch ohne das grüne Licht der Bundesregierung geschehen können. Erdogan hatte der Kanzlerin - wohl ungewollt - eine Hintertür geöffnet, als er persönlich eine Anzeige nach dem "normalen" Beleidigungsparagrafen 185 gestellt hatte. Merkel hat sie nicht genutzt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Bundesregierung erpressbar ist und sich dem Druck aus Ankara gebeugt hat, damit Erdogan den Flüchtlingsstrom nicht wieder anschwellen lässt. Auf europäischer Ebene wird die Position Merkels somit weiter geschwächt. Erdogan selbst wird die Ermächtigung als Genugtuung empfinden. Es steht zu befürchten, dass er sie auch als Freifahrtschein für weitere Repression gegen kritische Presse und Opposition in der Türkei verstehen wird.
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