Mittelbayerische Zeitung: Sigmar Gabriel: Die SPD ist eine Wertegemeinschaft -- Interview mit dem SPD-Vorsitzenden
Regensburg (ots)
Im Interview mit der Mittelbayerischen Zeitung spricht der SPD-Vorsitzende über die Folgen des Atomkompromisses, Thilo Sarrazin und die Rente mit 67.
Herr Gabriel, ihr Nachfolger im Amt des Bundesumweltministers, Norbert Röttgen (CDU), hat Sonntagnacht im Kanzleramt der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke zugestimmt. Wie geht es Ihnen dabei?
Sigmar Gabriel: Es geht nicht um meine persönliche Befindlichkeiten, sondern um die Zukunft unserer Energieversorgung. Schwarz-Gelb ist vor der Atomlobby eingeknickt. Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird brutal gestoppt - mit fatalen Folgen für die 300.000 Beschäftigten in dieser Zukunftsbranche. Die vier Energie-Monopolisten werden mit alten Atomkraftwerken zusätzliche Milliardengewinne einfahren, ohne dass vorher über Sicherheitsfragen auch nur diskutiert wurde. Der Bundesumweltminister hat auf ganzer Linie verloren. Denn er ist nach dem Gesetz verantwortlich für die Reaktorsicherheit.
Sie hatten angekündigt, über die SPD-geführten Länder eine Verfassungsklage gegen die Laufzeitenverlängerung einzureichen. Bleibt es dabei?
Ja. Wenn die Bundesregierung wirklich versuchen sollte, die Laufzeiten ohne Beteiligung des Bundesrates zu verlängern, wäre das nach meiner festen Überzeugung ein glatter Verfassungsbruch. Wenn in einem Land wie Hessen ein marodes Atomkraftwerk wie Biblis A acht Jahre weiterlaufen soll, dann heißt das, es gibt einen enormen zusätzlichen Kontrollbedarf, für den das Land aufkommen muss. Und damit ist die Länderkammer zwingend im Spiel. Und natürlich werden wir in einer neuen Bundesregierung mit SPD-Beteiligung zum Atomausstieg zurückzukehren.
Wer wäre denn in so einer Bundesregierung der Wunschpartner? Immer noch die Grünen?
Sicher. Natürlich ist die Schnittmenge mit den Grünen größer als mit jeder anderen Partei. Und die Umfragen zeigen ja, dass Rot-Grün klar vor Schwarz-Gelb läge, wenn es jetzt eine Bundestagswahl gäbe.
Und die Linke?
Die Partei "Die Linke" besteht eigentlich aus zwei Parteien, einer pragmatischen im Osten und einer spinnerten im Westen. Ich würde gerne wissen, mit welcher von beiden ich es zu tun habe.
Eine Annäherung an Links wird es mit Ihnen nicht geben?
Warum sollte ich das machen? Die müssen wissen, ob sie sich so verändern wollen, dass sie mit uns regieren dürfen. Und wenn man an die Wahl des Bundespräsidenten zurückdenkt sieht man, dass die noch verdammt viel intern zu klären haben.
Noch mal zur Atomkraft: Sie haben davor gewarnt, dass das Thema einen neuen gesellschaftlichen Großkonflikt aufbrechen lassen könnte. Was meinen Sie damit?
Rot-Grün hat mit dem Atomkonsens für Planungs- und Investitionssicherheit für die Erneuerbaren Energien gesorgt. Wer Milliarden in einen Offshore-Windpark in der Nordsee investiert, muss schon sicher sein, dass billiger Atomstrom nicht endlos die Netze verstopft. Es gab auch keine großen Konflikte mehr um Atomenergie. Das dürfte sich jetzt ändern.
An was denken Sie?
An gesellschaftliche Spannungen. Und daran, dass sich viele in der Energiewirtschaft überlegen werden, ob sie in Deutschland investieren werden.
Reden wir über Ihre Partei: Eigentlich müssen Sie als SPD-Vorsitzender froh sein, jemanden wie Thilo Sarrazin in der Partei zu haben, dem laut einer Umfrage jeder fünfte Bundesbürger seine Stimme bei einer Wahl geben würde...
Wenn wir so wären, wie Politiker manchmal beschrieben werden, nämlich blanke Opportunisten, dann wäre das so. Aber wir haben uns bewusst anders entschieden.
Erläutern Sie uns das doch bitte.
Wir haben gesagt: Ja, es gibt viele Beispiele für gelungene Integration, aber eben auch viele für misslungene Integration. Die SPD führt die Integrationsdebatte seit Jahren - und wir haben mit dem Ausbau von Sprachförderung und frühkindlicher Bildung oder mit dem unter rot-grün beschlossenen Ganztagsschulprogramm auch die richtigen Antworten gegeben. Herr Sarrazin gibt als zentralen Grund für die Misserfolge in der Integration eine angebliche Vorbestimmtheit ganzer Völker und Kulturen durch Vererbung und die menschlichen Gene an. Dieses Menschenbild ist es, das mit den Werten der SPD nicht vereinbar ist. Und ganz nebenbei: Wenn Fleiß, Intelligenz und Charakter erblich verankert sind, warum sollte sich einer da noch anstrengen?
Es gibt auch diejenigen, die betonen, Herr Sarrazin habe das Recht, seine Meinung zu sagen.
Das bestreitet auch niemand. Natürlich darf Herr Sarrazin das alles sagen. Aber die SPD muss entscheiden, ob das, was er als Menschenbild hat, zu uns passt. Wir sind nicht beliebig, wir sind eine Wertegemeinschaft.
Sie sagen, die SPD stellt sich der Diskussion - an deren Ende aber immer der Ausschluss Sarrazins aus der Partei steht...
Sarrazins Menschenbild missachtet meiner Meinung nach die deutsche Leitkultur. Die steht nämlich in der Verfassung und da heißt es in Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Warum haben die Volksparteien Sarrazin das Thema Integration gelassen?
Das haben wir nicht. Wir haben erst vor ein paar Monaten mit Klaus Wowereit eine große Konferenz zum Thema Integration in Berlin gemacht. Leider sind da aber nur wenige Journalisten hingekommen.
Aber Tatsache ist doch, dass Sarrazin das Thema in den Fokus gerückt hat...
Entscheidend ist doch: Sind wir jetzt nur alle aufgrund der Debatte erregt oder sind wir bereit, ernsthaft über Integration zu reden? Und sind wir bereit, dem Thema in unserer Politik in Städten, Ländern und auf Bundesebene den hohen Stellenwert einzuräumen, den es braucht?
Sie haben Lehramt für Deutsch, Politik und Sozialkunde studiert. Wie würden Sie Schülern erklären, wie Integration in Deutschland funktionieren muss?
Es geht um den alten Leitsatz "fördern und fordern". Es geht damit los, dass man die deutsche Sprache können muss, wenn man in Deutschland etwas werden will. Das bedeutet Sprachförderung im Kindergarten. Zweitens: Jugendliche - und zwar nicht nur ausländische - brauchen einen vernünftigen Schulabschluss. Dazu muss man den Kindern und Jugendlichen sagen: Ihr müsst euch alle anstrengen. Den Eltern würde ich sagen: Ihr liebt eure Kinder - dann sorgt dafür, dass sie die deutsche Sprache sprechen und eine gute Schulausbildung machen. Und wenn sich Eltern nicht darum kümmern, dass ihre Kinder nicht in die Schule gehen, dann muss der Staat dafür sorgen, dass die Schulpflicht auch durchgesetzt wird.
Sie planen ein Integrationsprogramm "Deutschland plus". Worum geht es da?
Es geht im Kern um Bildung. Es geht aber auch darum, am guten Beispiel zu lernen. Migranten sollten in möglichst vielen gesellschaftlichen Bereichen vertreten sein, um Vorbilder abzugeben und Ansprechpartner zu sein, damit Migranten den deutschen Staat nicht als etwas Fremdes empfinden. Mein Hauptanliegen ist aber, dass diese Integrationsbemühungen messbar werden.
Wie soll das gehen?
Wir brauchen einen nachprüfbaren und auf der Basis von wissenschaftlichen Daten gefertigten Bericht über Erfolge und Misserfolge in der Integration. Wir bekommen jeden Monat eine Arbeitslosenstatistik, jeden Monat hören wir, wie es in der Wirtschaft läuft. Beim Thema Integration wird die Debatte öffentlich nicht geführt. Ich finde, es muss zur Normalität gehören, dass wir öffentlich darüber reden, wie viele ausländische Jugendliche welchen Schulabschluss geschafft haben, welche Ziele wir in der Integrationspolitik erreicht haben und welche nicht. Dann würden wir auch nicht solche Eruptionen wie derzeit erleben. Die Kernantwort auf Integrationsprobleme lautet aber "Bildung, Bildung, Bildung".
Damit liegen Sie auf einer Linie mit der Kanzlerin...
Dann muss die Kanzlerin den Ländern und den Städten und Gemeinden helfen, mehr Kindergärten und Ganztagsschulen finanzieren zu können. Und sie darf vor allen Dingen Eltern nicht davon abhalten, ihre Kinder in die Kita zu schicken, indem sie "Herdprämien" austeilt.
Letztes Thema: Unter Ihnen hat die SPD die Abkehr von der Rente mit 67 eingeleitet...
... Das stimmt nicht. Wir haben das gemacht, was im Gesetz zur Rente mit 67 steht: wir haben 2010 überprüft, ob die arbeitsmarktlichen Voraussetzungen für die Einführung der Rente mit 67 da sind. Und das sind sie nicht. Jetzt geht es darum, diese Voraussetzungen zu schaffen. Wir scheinen die einzige Partei zu sein, die das Gesetz ernst nimmt.
Aber die Entscheidung wurde dennoch als Kurswechsel gewertet.
Es geht nicht darum, wie etwas von Journalisten bewertet wird. Eine Partei muss wissen, wie das Leben wirklich ist.
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