Mittelbayerische Zeitung: Deutschland steigt aus - und ein! Leitartikel zur Energiewende
Regensburg (ots)
Manchmal kommen historische Weichenstellungen ganz schlicht, sozusagen in Allerweltskleidung daher. Der in der Nacht zum Montag im Kanzleramt auf den Weg gebrachte Ausstieg aus der Kernenergie ist solch eine tiefgreifende Zäsur, die eher nach grauem Arbeitsanzug und harter Kärrnerarbeit riecht als nach rauschender Robe. Es wurde viel Selters getrunken, der Sekt kommt später. Der Abschied von einer Energieerzeugung, die jahrzehntelang zu den Grundfesten der Stromversorgung hierzulande gehörte, ist nicht nur eine gigantische politische, technische und innovative, sondern auch eine gewaltige gesellschaftliche Herausforderung. Deutschland steigt aus der Atomkraft aus - und in erneuerbare Energien ein. Von den Dimensionen her ist das viel mehr als das Mondflugprojekt der US-Amerikaner vor 40 Jahren. Merkel und Co. meinen mutig: Yes we can! Dass Deutschland in Sachen Ausstieg wesentlich radikaler als andere Länder vorgeht, tut dem richtigen Anliegen keinen Abbruch. Diese Energie-Wende ist wohlüberlegt, sie wird solide untersetzt. Und sie trägt der Mehrheitsmeinung der Deutschen Rechnung, die möglichst rasch aussteigen wollen. Eine Technik, die von den Folgen und Risiken her kaum beherrschbar ist, gehört abgeschaltet. Fukushima war in dieser Hinsicht der letzte Tropfen, der das Fass des Überdrusses zum Überlaufen brachte. Eine Energiegewinnung, die nachfolgenden Generationen eine Hypothek aufbürdet, weil sie denen einen hoch radioaktiven Müllhaufen hinterlässt, ist einfach nicht nachhaltig. Schwarz-Gelb hat die Katastrophe in Japan zum Anlass genommen, den Irrweg der Laufzeitverlängerung rigoros zu beenden und eine Kehrtwende hinzulegen. Ob der schwächelnden Regierungskoalition dieser Radikal-Schwenk allerdings auch geglaubt, ob er ihr abgenommen wird, steht freilich auf einem anderen Blatt. Die Koalition hat die Ausfahrt gerade noch so erwischt. Dabei dockt Merkel, nicht ungeschickt, im Grunde beim rot-grünen Ausstiegsbeschluss an - etwa was die durchschnittlich 32-jährige Laufzeit für Meiler betrifft. Zugleich soll der Abschied vom Atomstrom sogar noch verschärft werden, indem die Übertragung von Reststrommengen von dem einen auf den anderen Meiler nicht gestattet wird. Merkel hat jetzt alles vermieden, was auch nur den Eindruck einer Kungelei mit den Stromkonzernen vermitteln könnte. Auch die seit Jahren auf Eis liegende Suche nach einem End- bzw. Zwischenlager deutschlandweit bekommt neuen Schwung. Horst Seehofer räumte ohne viel Federlesens die Position, wonach nur im niedersächsischen Gorleben nach einem Endlager gesucht wird. Und mit dem Jahr 2022 liegt die Marke für einen unumkehrbaren Ausstieg fest. Mit der vor sieben Wochen installierten Ethik-Kommission hatte die Koalition gewissermaßen Bürgerbeteiligung auf hoher Ebene gewährleistet. Der Kreis aus Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft, Kirchen und Politik lieferte den politisch-moralischen Ausstiegs-Hintergrund. Stuttgart 21 lässt grüßen. Der Opposition indes dürfte es schwer fallen, dem schwarz-gelben Ausstiegs-Paket nicht zuzustimmen. Die Grünen, die seit Fukushima auf einer Welle der Glaubwürdigkeit und Zustimmung segeln, taten sich schwer, Haare in der Suppe zu finden. Und die SPD hatte zuvor einen Katalog von sechs Kriterien vorgelegt, die allesamt von der Kanzlerin abgearbeitet wurden. Merkels Vorschläge zielen auf Konsens. Sie hätte die beiden großen Oppositionsparteien gerne mit im Boot. Es ginge allerdings auch ohne sie. Im ersten Fall könnte sich Merkel als Ausstiegs-Kanzlerin feiern lassen. Im zweiten könnte sie Grüne oder SPD wahlweise als "Dagegen-Partei" brandmarken, je nachdem.
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