Mittelbayerische Zeitung: Der Unlaute Christian Wulff ist seit einem Jahr Bundespräsident. Er macht seinen Job gut - aller Kritik zum Trotz.
Regensburg (ots)
Als am 30. Juni, also vor einem Jahr, Christian Wulff nach stundenlanger Hängepartie im dritten Wahlgang gewählt wurde, war das für alle so etwas wie ein Omen. Wulff, der Kandidat der schwarz-gelben Koalition, sei beschädigt von Anfang an, hieß es. Mit ihm auch noch die gesamte bürgerlich-liberale Koalition dazu. Von diesen Aussagen ist nur die letztere richtig. Die Wahl war blamabel. Aber Wulff hat das keinen Schaden zugefügt. Er hat sich schnell vom Makel eines unbeliebten Kandidaten einer schwierigen Koalition befreit und sich der Funktion zugewandt, die er für sich ausgesucht hat: die des Brückenbauers. Viel von sich hören lassen hat Wulff in den vergangenen zwölf Monaten nicht. Wer das als Manko ansieht, vergisst, dass viele Schlagzeilen nicht unbedingt ein Beweis für gute Arbeit sein müssen. Die Koalition, die ihn ins Amt gehoben hat, sorgt für viele Nachrichten. Die wenigsten davon sind gut. Wulff hat sich darauf zurückgezogen, zu repräsentieren. Das ist per Definition seine Aufgabe. Und die erfüllt er gut. Als er einmal für eine Schlagzeile sorgte, bekam ihm das schlecht: Zum Tag der Deutschen Einheit sagte der Bundespräsident, der Islam sei Teil Deutschlands. Die wütenden Reaktionen und die Kritik folgten unmittelbar. Deutschland diskutierte über Werte, Religion und Inte-gration, schalt den Bundespräsidenten oder lobte sein Bekenntnis zu einer integrativen Gesellschaft. Wulff zog sich nach dem Wirbel, den seine Rede ausgelöst hatte, nicht zurück. Bei seinem Türkei-Besuch erneuerte er sein Bekenntnis zur Inte-gration. Nur vermied er es, weiter für Wirbel zu sorgen. Wulff ist Politiker genug, um zu wissen, wann es genug ist. Das unterscheidet ihn ebenso von seinem Vorgänger Horst Köhler wie die Fähigkeit, Kritik - auch harte - wegzustecken. Durch seine Vergangenheit als Ministerpräsident weiß er, was Regierungsverantwortung heißt. Das dürfte auch erklären, warum Wulff sich nicht in die Tagespolitik einmischt. Dass ihm dies als Nachteil angerechnet wird, liegt aber weniger an ihm selbst, als an der derzeitigen Bundesregierung. Schwarz-Gelb unter Angela Merkel hat ein Erklärdefizit - und nach wie vor ein Glaubwürdigkeitsproblem. Union und FDP schreiten Seit' an Seit', aber nicht miteinander. Der gesellschaftliche Großkonflikt über die Atomkraft mag gelöst sein, der innerkoalitionäre Großkonflikt über Steuersenkungen ist es nicht. Blockadehaltungen und Misstrauen zwischen den Parteien sind virulent. Beizeiten ist das einzig erkennbare Ziel der Bundesregierung der Selbsterhalt. Auf der Strecke bleiben dabei viel zu oft die Bürger. Gründe für Verunsicherung gibt es genug: Euro-Krise, Griechenland-Hilfen, Energiesicherheit sind nur die wichtigsten Schlagwörter. Aber es gibt niemanden, der den Menschen erklärt, warum es nötig ist, den Euro zu retten. Warum wir vor einem halben Jahr die Atomenergie noch als Brückentechnologie begrüßen sollten, während heute diese Brücke bereits hinter uns brennt. Vielleicht wäre ein klares Wort des Bundespräsidenten nötig, eben weil die Vermittlung Sache dieser Bundesregierung nicht ist. Wulff könnte diese Lücke füllen. Er hat das schon einmal getan und Sarrazin-Land zurück zu einer guten, richtigen Debatte über Integration verholfen. Wulff hat das diesmal nicht getan. Vielen Bundesbürgern ist das Anlass gewesen, ihn als zu still zu kritisieren. Doch das ist falsch. Die fehlende Vision, die fehlenden Antworten, auf die viele Menschen warten, sie schlummern nicht in Schloss Bellevue, sondern im Kanzleramt.
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