Mittelbayerische Zeitung: Bundespräsident von Merkels Gnaden Wulff bleibt im Amt. Damit rettet die Kanzlerin auch sich selbst. Leitartikel von Christian Kucznierz
Regensburg (ots)
Die offenen Fragen sollten geklärt werden, das war der Anspruch des Bundespräsidenten. Mehrfach. Er hat das vielleicht bei seinem gestrigen TV-Auftritt zustandegebracht, wobei die Frage berechtigt ist, warum das immer erst auf äußersten Druck geschieht. Wulffs Interview mag ihm für einen weiteren Moment das Amt gerettet haben. Das Amt an sich aber ist unrettbar geworden unter seiner Führung. Wie kann ein Bundespräsident noch ernst genommen werden, wenn er selbst alle Ansprüche, alle Forderungen, die er an die Gesellschaft, an die Politik nicht nur einmal gestellt hat, mit Füßen tritt und glaubt, nein, ernsthaft erwartet, dass mit einer, nein, mehreren Entschuldigungen alles vergeben und vergessen ist? Wer wird Wulff noch zuhören, ohne sich zu fragen, welcher Wulff da gerade spricht: Der auf Mailboxen zeternde und drohende oder der sich Asche aufs Haupt streuende? Dass Christian Wulff noch im Amt bleibt, ist dabei aber nicht seiner Selbsterkenntnis zu verdanken, die interessanter Weise eben nicht so wirkt, als ob er selbst zu ihr gelangt ist. Eher scheint es doch, dass die Selbsterkenntnis, die dem Bundespräsidenten offenbar fehlt, ihm von außen angetragen wird. Wulff ist mehr denn je ein Bundespräsident von Merkels Gnaden. Von den Koalitionsparteien war in den vergangenen Tagen nichts zu hören. Das Schweigen aus dem Kanzleramt ist man zwar gewohnt. Aber es war ein Schweigen, das Bände sprach. Merkels Koalition konnte sich keinen zweiten verschlissenen Bundespräsidenten leisten; für die Kanzlerin selbst wäre es wohl das Ende ihrer Regierungszeit gewesen. Also suchte man in Berlin offenbar lange nach einem Weg; dass Wulff selbst nicht gehen will, schien schon länger klar. Ihn fallen zu lassen wäre politischer Selbstmord. Drängen konnte oder wollte ihn offenbar auch keiner zum Amtsverzicht. Also ein Interview zur Prime-Time. Ein paar Beistandsbekundungen aus der Koalition, und dann soll alles wieder normal weitergehen. Ein frommer Wunsch. Wie fromme Wünsche so sind, sind sie meist eher gut gemeint und werden selten wahr. Aber: Ist es nicht menschlich, wenn ein Politiker, und sei er das Staatsoberhaupt, in Bedrängnis irrational handelt? Sicher. Aber Wulff ist erstens kein politisch unerfahrener Mensch. Im Gegenteil, er kommt ja aus der Politik, nicht wie sein Vorgänger Horst Köhler, dessen überstürzter Abgang immer auch als Folge dessen gesehen wurde, dass er keine Erfahrung im politischen Alltag gehabt habe. Diese Ausrede ist Wulff verwehrt. Zumal er ja nicht irgendetwas falsch gemacht hat. Er hat ein Grundrecht einzuschränken versucht. An die Konsequenzen hat er nie gedacht. Deutschland hat spätestens seit gestern einen Bundespräsidenten, der alleine deswegen noch im Amt ist, weil die Koalition, die ihn stützt, es so will. Die Devise lautet: Es ist besser, einen beschädigten Bundespräsidenten im Amt zu haben, als eine beschädigte Bundesregierung. Das ist politisches Theater, eine Lehrstunde für das, weswegen immer mehr Menschen sich enttäuscht von der Politik abwenden. Wulff windet sich weiter, auch das ist eine Erkenntnis aus dem gestrigen Interview. Wird er weiter in Konfliktsituationen mit der Wahrheit selektiv umgehen? Wird er weiter Schlupflöcher zu nutzen versuchen, wenn es eng wird? Wird er weiter um Entschuldigung bitten, wenn er ertappt wird? Und sind das nicht Fragen, die sich keiner stellen sollte, wenn es um den höchsten Repräsentanten Deutschlands geht?
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