Mittelbayerische Zeitung: Der Holocaust-Gedenktag ist aktueller denn je
Marcel Reich-Ranicki hat als Überlebender des Warschauer Ghettos der Geschichte eine Stimme verliehen.
Regensburg (ots)
von Reinhard Zweigler
Er ist einer der letzten Zeitzeugen des Warschauer Ghettos. Und was er gestern bei der Gedenkfeier für die Opfer des Holocaust im Bundestag zu sagen hatte, das war beklemmend, ließ die Zuhörer minutenlang stumm verweilen. Marcel Reich-Ranicki, vielen eher als scharfzüngiger Literaturkritiker bekannt, hat dabei beschrieben, wie grausam der Mord an Millionen Juden in Europa durch NS-Mörder betrieben wurde. Er hat leidvoller Geschichte ein Gesicht gegeben. Er tat das mit brüchiger Stimme und dennoch eindrucksvoll. Ohne erhobenen Zeigefinger und gerade deshalb ist es eine Mahnung für die heutigen Generationen: Lasst solche Verbrechen niemals wieder zu! Bald werden Zeitzeugen von damals nicht mehr persönlich berichten können. Auf den Schultern der nachgeborenen Generationen liegt die Aufgabe, das Wissen um die Schuld der braunen Täter, die Hintergründe der NS-Diktatur und die Lehren für unsere freiheitlich-demokratische Ordnung immer wach zu halten. Das Gedenken ist dabei kein bloßes Ritual, zu dem es hin und wieder zu verkommen schien. Das Interesse an Geschichte allgemein und an der jüngeren Vergangenheit im Besonderen hat erfreulicherweise zugenommen. Es gibt keine historische Schuld der nachgeborenen Deutschen für den unglaublichen Massenmord an den europäischen Juden, für die generalstabsmäßig geplante Ausrottung von Minderheiten, Missliebigen, Behinderten, für einen barbarisch geführten Vernichtungskrieg. Aber es gibt eine Verantwortung vor der Geschichte, die richtigen Lehren zu ziehen. Im Land der Täter, Opfer und Mitläufer, vor allem der vielen Millionen Menschen, die das blutige Geschehen und die braune Diktatur nur noch aus Erzählungen, Büchern und Filmen kennen. Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft, sagte einst Wilhelm von Humboldt. Deutschland hat, auch wenn dies kein einfacher und geradliniger Prozess war, die Lehren aus der Geschichte gezogen. Es hat immer eine besondere Verantwortung gegenüber Israel. Es hat sich in die europäische Einigung eingebracht. Deutsche Sonderwege wird es nicht geben. Es gibt aber auch Grund, immer wieder nachzufragen. Nachrichten aus der jüngsten Zeit zeigen, wie notwendig die kritische Beschäftigung mit deutscher Vergangenheit ist. Wenige Wochen vor dem Gedenken wurde die Mordserie des Zwickauer Neonazi-Trios bekannt. Dass fanatische Fremdenhasser, unterstützt von Gleichgesinnten, jahrelang in Deutschland morden konnten, erschüttert - und wird zu Recht von einem Parlamentsausschuss aufgeklärt. Die politische Speerspitze der Rechtsextremen, die NPD, verbreitet derweil weiter krude Nazi-Ideologie. Natürlich im modernen Gewande, Arbeit zuerst für Deutsche etwa. Dass sich der Rechtsstaat mit einem Verbot dieser Verfassungsfeinde schwertut, ist kein Ruhmesblatt. Noch wichtiger jedoch ist ein gesellschaftliches Klima von Freiheit und Toleranz, das den Rechtsextremen den Boden entzieht. Es geht aber auch um einen latenten Antisemitismus, der sich nicht so laut äußert wie bei der NPD. Jeder fünfte Deutsche neige zu antisemitischen Haltungen, hat eine Studie wenige Tage vor dem Holocaust-Gedenken herausgefunden. In seiner berührend-aufrüttelnden Biografie "Mein Leben" hat Reich-Ranicki beschrieben, wie banal Diktaturen beginnen und wie brutal sie enden können. Man sollte ihn lesen und ihm zuhören. Nicht nur am Holocaust-Gedenktag.
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