Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zur vermissten Boeing: Der schöne Schein von Christian Kucznierz
Regensburg (ots)
Die Tragödie des Flugs MH 370 wirft Fragen auf, die sich eigentlich nicht mehr stellen sollten.
Als am 11. September 2001 die Zwillingstürme des World Trade Centers einstürzten, war das eine Zeitenwende. Es war der Anfangspunkt einer Kontrollwut der Geheimdienste, der nackte Angst zugrunde lag - Angst davor, nicht zu wissen, welche Terrorgruppen was planten, Angst, zu spät zu kommen. Um diese Angst zu besiegen, waren die westlichen Staaten, allen voran die USA, bereit, alles zu opfern. Wie weit das geführt hat, wissen wir seit den Snowden-Enthüllungen. Wie wenig aber die ganze Sicherheitsparanoia hilft, zeigt sich daran, dass es am Wochenende zwei Männern offenbar gelang, völlig unbehelligt mit gestohlenen Reisepässen an Bord eines Flugzeugs zu kommen. Noch ist nicht klar, was genau mit dem Flug Nummer MH 370 geschehen ist. Ob es sich um einen tragischen Unfall handelt, um menschliches Versagen im Cockpit, um technische Probleme - oder eben doch um einen Terrorakt oder eine Entführung. Und selbst wenn es ein Verbrechen war, ist noch lange nicht gesagt, dass die beiden Personen, die mit den gestohlenen Papieren reisten, etwas mit dem Anschlag zu tun gehabt haben. Diese Fragen werden vielleicht auch nie geklärt werden. Eine grundlegende aber muss schleunigst beantwortet werden: Warum kann heute noch irgendwo auf der Welt ein Mensch in ein Flugzeug kommen, dessen Gesicht eindeutig nicht das auf dem Passfoto ist? Und warum wird der Ausweis eines wenige Monate alten Kindes am Flughafen durch ein System geschickt, wenn am anderen Ende der Welt auf einem großen internationalen Flughafen die Kontrolleure es nicht einmal für nötig halten, die vorgelegten Dokumente mit einer Datenbank abzugleichen, in der gestohlen gemeldete Pässe registriert sind? Nicht einmal am 11. September reisten die Attentäter mit falschen Identitäten. Weil das Risiko zu hoch ist, aufgrund dessen entdeckt zu werden. Noch dazu in Zeiten der biometrischen Passbilder. Und selbst wenn die Ähnlichkeit groß ist: Es bleiben Unterschiede, die zumindest zu einer intensiveren Prüfung vor dem Boarding führen müssen. Warum also diese vielleicht fatale Panne geschah, muss unbedingt geklärt werden, weil durch sie alle anderen Sicherheitsmaßnahmen, die Flugreisende auf aller Welt seit 2001 erdulden müssen, ad absurdum geführt werden. Auf der anderen Seite aber zeigt dieser Fall auch, wie fragil unser Wunsch nach Sicherheit und totaler Kontrolle ist. Ein menschlicher Fehler kann auf dem Flug MH 370 vielleicht dazu geführt haben, dass hunderte Menschen ihr Leben verloren. Was alles kann noch geschehen, wenn an anderer Stelle ein Mensch Fehler macht? Oder, andersherum: Was alles kann geschehen, wenn alle glauben, alles richtig zu machen, aber den Falschen erwischen? Das gilt überall, in allen Bereichen. Wie viele Tote gehen auf das Konto des vermeintlich "sauberen" Drohnenkriegs der USA im Grenzegebiet zwischen Afghanistan und Pakistan, die gar keine Terroristen waren? Wie viele Namen landeten auf irgendwelchen Listen, nur weil jemand einen Fehler machte oder einfach nicht genau genug hinsah? Murat Kurnaz ist der bekannteste Name, aber er ist nur einer von vielen. Am heutigen Dienstag sind es zehn Jahre, als Terroristen Bomben in Madrider Pendlerzügen zündeten und 191 Menschen dafür mit ihrem Leben bezahlten, dass Polizei und Geheimdienste eben nicht genau hinsahen und nicht miteinander redeten. Es sind derartige Katastrophen, die klar gemacht haben, warum eine vernetzte Sicherheitsarchitektur Sinn macht. Aber am Ende ist es immer nur eine gefühlte Sicherheit, in der wir leben. Und eine sehr zerbrechliche dazu.
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