Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Sebastian Heinrich zu Erdogans Twitter-Sperre
Regensburg (ots)
Bis Freitagmorgen war der Kurznachrichtendienst Twitter in einem einzigen Land verboten: China. Weil die Regierung Angst hat vor der Macht, welche die weltweit versandten 140-Zeichen-Botschaften entfalten können. Dass die Türkei sich nun dem größten autokratischen Staat der Welt angeschlossen hat, ist ein drastisches Indiz, dass Premier Recep Tayyip Erdogan die Demokratie in seinem Land immer weiter aushöhlt. Vor allem aber ist das Twitter-Verbot in der Türkei der nächste Ritterschlag für ein Medium, das in nur acht Lebensjahren eine Macht entwickelt hat, die Autokraten weltweit den Angstschweiß auf die Stirn treiben kann. Twitter ist zu einem Sprachrohr für Menschen geworden, die um Freiheit und Menschenrechte kämpfen. Immer wieder zeigt sich das: Vor drei Jahren in der arabischen Welt, als sich die Menschen in Algier oder Kairo via Twitter zu Massenprotesten verabredeten. Anfang dieses Jahres in der Ukraine, wo die Demonstranten unter dem Hashtag #Euromaidan ihre Impressionen von den blutigen Straßenschlachten in Kiew in die Welt zwitscherten. Und 2013 in der Türkei, wo Zeitungen und TV-Sender sich lange über die Proteste um den Taksim-Platz in Istanbul ausschwiegen - und die Welt dennoch ständig live bei #occupygezi dabei sein konnte. Kürze und Geschwindigkeit sind die Stärken von Twitter. Der Tweet ist der Nachfahre des Flugblatts - nur tausendfach schneller und millionenfach sichtbarer. Und während man Flugblätter einstampfen, Druckmaschinen und Kopiergeräte vernichten konnte, kann man Twitter nicht einfach aus der Welt schaffen. Auch das zeigt die Twitter-Blockade des digitalen Ignoranten Erdogan. Über VPN-Netzwerke oder via SMS zwitschert die Opposition munter weiter. #TwitterisBlockedinTurkey ist am Freitag der beliebteste Hashtag - weltweit. Twitter macht demokratieallergischen Mächtigen Angst, weil Bürger Informationen dort ungefiltert weitergeben können. Anders als Nachrichtenredaktionen lässt sich das Millionenheer der Twitter-Gemeinde nicht kontrollieren. Ein schmerzhafter Stachel im Fleisch von Menschen wie Erdogan, die sich am liebsten - frei nach Brecht - ihr eigenes Volk wählen würden, für das Dinge wie Meinungsfreiheit, Homosexualität oder Minderheitenrechte keine Rolle spielen. Es ist kein Zufall, dass in der Türkei mit ihrer großteils obrigkeitshörigen Medienlandschaft stolze 39 Prozent der Internetnutzer auf Twitter aktiv ist. Und es ist kein Zufall, dass unter den fünf twitteraffinsten Länder Europas mit Russland und Italien zwei Staaten sind, in denen es um die Pressefreiheit nicht allzu rosig bestellt ist. Vor allem dort, wo die traditionellen Medien ihren demokratischen Auftrag nicht ausreichend erfüllen, kann Twitter viel zur Demokratisierung beitragen. Überschätzen darf man das Netzwerk freilich auch nicht. Selbstverständlich wird Twitter allein nicht die Welt verändern. Selbstverständlich sind die Beweggründe für Revolten seit Menschengedenken die gleichen: soziale Schieflagen, Unfreiheit, Unterdrückung. Und selbstverständlich ist Twitter nicht nur ein großes demokratisches Instrument - sondern auch ein virtueller Schulhof, auf dem geltungsbedürftige Promis und gelangweilte Teenies Belanglosigkeiten austauschen. Und natürlich steckt hinter Twitter ein milliardenschwerer börsennotierter Konzern mit wirtschaftlichen Interessen, den es kritisch zu beobachten gilt. Twitter ist ein Medium, nicht mehr und nicht weniger. Aber eines mit revolutionärer Macht. Wer es "entwurzeln" will, hat keine Chance. Und wer es ignoriert, läuft Gefahr, buchstäblich den Anschluss zu verpassen.
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