Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Stefan Stark zum Rentenstreit
Regensburg (ots)
Die Renten-Rebellion in der Union trieft vor Heuchelei: Denn genau jener Passus, von dem Dutzende Abgeordnete von CDU und CSU auf einmal nichts mehr wissen wollen, steht wortwörtlich im schwarz-roten Koalitionsvertrag. Der milliardenschwere Deal wurde kurz vor Weihnachten von den Parteichefs Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel abgesegnet. Es war ein Koppelgeschäft mit der SPD nach dem Motto: Die Union bekommt die Mütterrente, die Sozialdemokraten die Rente mit 63. Die Abweichler bei CDU und CSU riskieren eine ernste Koalitionskrise. Falls tatsächlich mindestens 60 Abgeordnete gegen das Rentenpaket von Arbeitsministerin Andrea Nahles stimmen würden - immerhin das mit Abstand teuerste politische Projekt nach der Finanzierung der deutschen Einheit - würde es voraussichtlich zwar immer noch eine Mehrheit für das Gesetz geben. Doch mit der Glaubwürdigkeit dieser Bundesregierung wäre es nicht mehr weit her, zumal die Rebellen dann auch ihr eigenes Mütterrenten-Projekt sabotieren würden. Über beides - Rente mit 63 und Mütterrente - soll nämlich in einem Aufwasch abgestimmt werden. Natürlich ist ein Koalitionsvertrag kein Gesetz, das in Stein gemeißelt ist. Auch bei früheren Bündnissen wurden viele Versprechen nicht eins zu eins umgesetzt - und manche gar nicht. Es ist das gute Recht von Abgeordneten, die Sinnhaftigkeit von Gesetzen infrage zu stellen. Vor allem, wenn sie so kostspielig sind wie die Rentenreform. Sie soll 160 Milliarden Euro bis 2030 kosten - mehr, als man für die Bankenrettung ausgegeben hat. Doch eines verwundert: Das große Geschrei um die Rente mit 63 betrifft jenen Teil der Rentenreform, der gemessen an den Gesamtkosten des Pakets fast wie ein Schnäppchen wirkt. Der Löwenanteil geht nicht für den früheren Ruhestand drauf, sondern für die Mütterrente. Genau dieser Punkt wäre diskussionswürdig. Natürlich sei den Müttern eine Anerkennung für ihre Erziehungsleistung gegönnt. Doch es ist krass ungerecht, dass nur die Rentenbeitragszahler für diesen Bonus aufkommen sollen. Beamte, Freiberufler oder Vermögensmillionäre sind fein raus. Die Renten-Revolte in der Union speist sich aus den eindringlichen Alarmrufen aus der Wirtschaft. Die Erfolge der bisherigen Sozialreformen würden verfrühstückt, außerdem verschärfe die Koalition mit der Frühverrentung den Fachkräftemangel, warnen Unternehmerverbände nicht zu Unrecht. Und mancher Unionler, der den Genossen den Triumph beim Mindestlohn nicht gönnt, würde der SPD jetzt gerne bei der Rente mit 63 eins auswischen. In der Tat wurde den Bürgern jahrelang eingetrichtert, dass sie länger arbeiten müssen, damit die Rente sicher bleibt. Doch bei der Rente mit 63 geht es eben nicht allein um die Frage, ob die SPD eine klassische Wählerklientel bedient - die Facharbeiter. Das Gesetz schließt auch eine Gerechtigkeitslücke. Viele Leute arbeiten seit ihrem 14. oder 15. Lebensjahr - im Gegensatz zu Akademikern, die oft erst mit Ende 20 ins Berufsleben einsteigen. Diese Arbeiter oder Handwerker zahlen weitaus länger in die Rentenkasse ein und manche haben mit 63 Jahren 48 oder 49 Berufsjahre auf dem Buckel. Will die Union so jemanden, wenn er nicht mehr arbeiten kann oder will - mit der Peitsche in die Arbeit zwingen? Aus diesem Blickwinkel wirkt der Koalitionsstreit, inwieweit Zeiten der Arbeitslosigkeit anerkannt werden, reichlich kleinkariert. Die Renten-Rebellion bei CDU und CSU wird leider nicht dazu führen, dass das Rentenpaket wieder aufgeschnürt und vor allem die Finanzierung der Mütterrente auf mehr Schultern verteilt wird. Bei der Rente mit 63 wird man bei der einen oder anderen Frist ein bisschen nachjustieren und dann so tun, als ob das jetzt der große Wurf sei. Doch diese Rentenreform wird noch kurzlebiger sein, als ihre Vorläufer. Denn spätestens, wenn die Rentenreserve verfrühstückt ist und die Beiträge angehoben werden müssen, schlägt die Stunde der Wahrheit. Dieser Zeitpunkt lässt sich zuverlässig voraussagen: Er wird kurz nach der nächsten Bundestagswahl sein.
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