Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Thomas Spang zu Ukraine/Europa
Regensburg (ots)
Die Versuchung bleibt groß, Wladimir Putins aggressive Machtpolitik wegzurationalisieren. Andernfalls müssten Politiker ein paar unangenehme Einsichten gewinnen. Nähmen sie die Bedrohung aus Russland ernst, wüssten sie, dass es wie bisher nicht weitergeht. Es hat sich ausgekuschelt. Der NATO-Verteidigungs-Planungsausschuss kommt in einem internen Papier zu dem Schluss, dass ein Angriff auf die Mitgliedstaaten Lettland, Litauen und Estland kaum mit konventionellen Mitteln abgewehrt werden könnte. Das Vorgehen Putins in der Ukraine gibt berechtigten Anlass zur Sorge, er könnte versucht sein, eines Tages mit derselben Blaupause in den baltischen Staaten zu agieren. Der Anschluss der Krim und die Einmischung im Osten der Ukraine offenbaren, wie wenig die Europäische Union auf das nationalistische Gebaren Russlands eingestellt ist. Umso dringender müssen sich die Europäer nun Gedanken darüber machen, wie sie künftig ihre eigene Sicherheit organisieren wollen. Nichts beschreibt die Notwendigkeit dieser Debatte deutlicher, als die Unfähigkeit der Mitgliedstaaten, die Außengrenzen der EU aus eigener Kraft verteidigen zu können. Dafür brauchen sie den Beistand der USA. Solange die Arbeitsteilung entlang dieser Linien verläuft, werden die strategischen Entscheidungen in Washington getroffen. Dass dabei nicht immer das herauskommt, was sich die Europäer wünschen, liegt auf der Hand. Es ist ein bisschen so wie mit der Großmutter, die bei der Beaufsichtigung der Zöglinge mit eingespannt wird. Da geht die Kritik an der "falschen" Erziehungsmethode der Oma auch haarscharf am Ziel vorbei. Wer Verantwortung abgibt, lädt zur Einmischung ein. In der Weltpolitik ist das nicht anders. Europa hat sich darauf eingerichtet, die Vereinigten Staaten für seine Sicherheit garantieren zu lassen. Und sie tun es. Ohne die Rückendeckung der USA dürften die Aggressionen des kleinen Führers aus Moskau gewiss mehr Sorge auslösen. Die Amerikaner sehen zu Recht nicht ganz ein, warum sie ständig auf die Anklagebank gesetzt werden. Mal, weil sie zu viel Druck machen, ein anderes Mal wegen des Vorwurfs, nicht genügend zu tun. Präsident Obama hat Konsequenzen aus der Hybris seines Vorgängers gezogen, der die Supermacht in einen unnötigen und falschen Krieg in Irak stürzte. Und er beendet den Einsatz in Afghanistan. Beides hatte er seinen Landsleuten vor den Wahlen versprochen. Und Europa ehrte ihn dafür vorab euphorisch mit dem Friedensnobelpreis. Nach einem Jahrzehnt der Kriege hat Obama nicht die geringste Neigung, die USA in neue militärische Abenteuer zu verstricken. Wobei ein Waffengang vor der Haustür einer Nuklearmacht ohnehin keine denkbare Option wäre. Das weiß auch Putin, der die Kriegsmüdigkeit der USA und die Schwäche Europas in der Ukraine zynisch ausbeutet. Das große Glück der EU besteht darin, mit Obama ein Präsident im Weißen Haus zu haben, der den engen Schulterschluss sucht. Das kann sich ändern. Erstaunlich, wie wenig diese Realität im Wahlkampf thematisiert wird. Die Ukraine-Krise sollte ein Weckruf an Europa sein, mehr für die eigene Sicherheit zu tun. Angefangen bei einer gemeinsamen Außenpolitik, die nicht von nationalen Eitelkeiten untergraben wird, über integrierte europäische Streitkräfte im Rahmen der NATO bis hin zu Investitionen in Ausrüstung und Soldaten. Solange Europa nicht bereit ist, sein Kuschel-Paradies zu verlassen, wird es nur bedingt ernst genommen. Sowohl in Moskau wie auch in Washington. Darüber wäre eine Debatte nötig. Nicht nur im Wahlkampf. Dringend.
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