Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Katia Meyer-Tien zum NSU-Prozess
Regensburg (ots)
Es war die erste Äußerung von Beate Zschäpe nach 128 Verhandlungstagen, und so knapp sie auch war: Ihr Nicken auf die Frage, ob das Vertrauensverhältnis zu ihren Anwälten zerrüttet sei, verändert den NSU-Prozess nachhaltig - unabhängig davon, wie der Vorsitzende Richter Manfred Götzl heute über Zschäpes Antrag auf Entlassung ihrer Pflichtverteidiger entscheidet. Während Staatsanwaltschaft, Nebenkläger und Angehörige der Opfer im Zwiespalt zwischen Ärger über die Verzögerung und Hoffnung auf einen Strategiewechsel der Verteidigung die weitere Entwicklung nur abwarten können, stehen die drei Verteidiger Anja Sturm, Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl im Zentrum des Geschehens. Die sind angetreten, um "einer der Übermacht des Staates ausgelieferten Person mit rechtlichen Mitteln beizustehen", wie die Strafrechtlerin Sturm es einmal ausdrückte. Dabei bewegen sie sich seit mehr als einem Jahr in der Grauzone zwischen dem Nimbus, Akteure in einem der bedeutendsten Verfahren der Nachkriegsgeschichte zu sein, und der gesellschaftlichen Ächtung, die mit der Verteidigung einer mutmaßlichen Rechtsterroristin einhergeht. Insbesondere Anja Sturm bekam das zu spüren: Sie wechselte wegen "Unstimmigkeiten" nach der Mandatsübernahme sogar Kanzlei und Wohnort. Allen drei Anwälten kann keinerlei Nähe zur rechten Szene unterstellt werden, umso beachtlicher war die professionelle Vertrautheit, mit der sie bisher im Gerichtsaal im Umgang mit Beate Zschäpe erschienen. Der Vertrauensentzug ihrer Mandantin wirkt da als schallende Ohrfeige. Selbst wenn das Verhältnis bisher nicht belastet gewesen sein sollte: Es ist schwer vorstellbar, dass die drei nun weitermachen wie bisher. Richter Manfred Götzl indes hat keine andere Wahl, als Zschäpes Unmutsbekundungen sehr ernst zu nehmen. Er hat eine Fürsorgepflicht für die Angeklagte, es liegt an ihm, sicherzustellen, dass Beate Zschäpe einen fairen Prozess bekommt. Schon bisher hat das Oberlandesgericht deutlich gemacht, dass es um jeden Preis verhindern will, dass es nach der Urteilsverkündung in dem Mammutverfahren einen Anlass zur Revision geben könnte. Daher die Verzögerungen zu Prozessbeginn im Streit um das Akkreditierungsverfahren, daher die strikte Ablehnung einer Videoübertragung in einen anderen Saal. Schon der geringste Zweifel daran, dass Zschäpe ihren Anwälten ausreichend vertraut, könnte ein solcher Revisionsgrund sein. Aber: ein Wechsel der Verteidiger, der sogar einen Neubeginn des Prozesses notwendig machen könnte, wäre der Super-Gau in der bisher an Skandalen nicht gerade armen Geschichte der Begegnung des NSU mit dem deutschen Rechtssystem. Der erste Prozesstag nach dem Nicken ist ein Tag der Entscheidungen. Götzl muss entscheiden, wie er den Prozess weiterlaufen lässt. Heer, Sturm und Stahl müssen entscheiden, ob und wie sie in Zukunft mit Beate Zschäpe weiterarbeiten. Und die Angeklagte selbst? Möglich, dass ihre beiläufige Mitteilung an einen Polizeibeamten in der Mittagspause die Reißleine war, an der sie zog, weil sie glaubt, unausweichlich auf eine Verurteilung zuzusteuern. Möglich auch, dass sie es nicht ertragen konnte, dass andere über sie und ihr Leben sprechen, ohne dass sie etwas dazu sagen kann. Und selbst, wenn es nur ein spontaner Versuch war, irgendwie ins Geschehen einzugreifen: Deutlich wird, dass die Prozesstage, die Beate Zschäpe so scheinbar eiskalt und siegesgewiss schwieg, gehen nicht spurlos an ihr vorüber. Angesichts der ihr zur Last gelegten Vorwürfe ist das vielleicht ein erster Erfolg des Verfahrens. Und ein Anlass auch für Zschäpe, eine Entscheidung zu treffen.
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